Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
machte im Wohnzimmer den Fernseher an. Ich blieb am Tisch sitzen, unfähig, seine Worte und Handlungen zu akzeptieren. Nach so langer Zeit offenbarte er mir eine ganz andere Seite seines Wesens. Ich hatte gedacht, ich würde meinen Mann kennen! Die Verunsicherung sickerte mit einem hässlichen Brennen in meine Eingeweide. Konnte ich ihm noch trauen? Gab es noch mehr, was er mir verschwieg?
Aus dem Wohnzimmer erklang die aufgeregte Stimme eines Fußballmoderators. In der Küche war das übliche kleine Chaos auf Spüle, Herd und Tisch verstreut. Vor dem Küchenfenster bewegte sich die üppige Cosmea cosmos sanft mit dem leichten Spätsommerwind. Völlige Normalität. Alles wie immer. Aber – in mir tat sich ein Abgrund auf, und nur zu leicht stolperte ich hinein. Alles wie immer, nur nicht in mir.
„Es ist die Pflicht eines jeden Mannes …“
Das war schon das fünfte Pflegeheim in dieser Woche, das ich mir anschaute. Zwei davon waren gleich von meiner Liste gestrichen worden. Das eine stank förmlich, das andere war zwar sauber, aber viel zu dunkel und zu ungemütlich. Blieben also die beiden von gestern in der näheren Wahl und das von heute. Zum Glück gab es im Rems-Murr-Kreis eine reiche Auswahl an Pflegeheimen, und ich war zuversichtlich, dass ich eines finden würde, wo ich meine Mutter mit gutem Gewissen unterbringen konnte. Ich hatte mir eine Frage-Liste erarbeitet, die ich systematisch abarbeitete. Fragen wie: Bewohneranzahl, Personalschlüssel, ist eine ausreichende Betreuung in der Nacht gewährleistet, besteht freie Arztwahl, überwiegt Fachpersonal, dürfen persönliche Gegenstände und Möbel mitgebracht werden, gibt es einen Speiseplan mit Menü-Auswahl, Diätküche, ist das Gebäude absolut behindertengerecht, gibt es eine hauseigene Wäscherei, einen Garten für Sommertage, eine gute Verkehrsanbindung, Freizeitangebote und anderes mehr? Bei jeder Besichtigung achtete ich unauffällig, aber genau auf das Personal, wie es mit den Senioren umging. Wie war die Ansprache? Mit Respekt und Zuneigung, oder eher wirsch? Und ich schaute mir die Gemeinschaftsräume an: waren sie gut besucht, hatten sie große Fenster und einen schönen Ausblick? Gab es Fernseher und Spiele und auch Rückzugsmöglichkeiten? War das Gelände gesichert, so dass niemand unbemerkt davonlaufen konnte? Und nicht zuletzt die Bewohner selbst: Machten sie einen entspannten und zufriedenen Eindruck? Waren sie gut angezogen oder mussten sie gar pflegeleichte Trainingsanzüge tragen? Ich nahm die Besichtigungstermine sehr ernst. Für die kommende Woche standen noch zwei Heime auf meiner Liste.
Die Nachmittagstermine hatte ich mit Miri gemeinsam wahrgenommen. Sie war sehr daran interessiert, an der Auswahl teilzuhaben. Ich freute mich darüber. Es war ein richtiger Lichtblick, dass sie wieder mehr Anteil an ihrer Umwelt nahm. Nur in der Schule blieb sie teilnahmslos und war gereizt. Herr Reimann hatte mit mir telefoniert. Miri war nach wie vor sein Sorgenkind Nr. 1 in der Klasse. Er schilderte sie mir als fahrig, unzuverlässig, tagträumend. Seinen Beobachtungen nach ging sie sehr sorgfältig ihrer ehemals besten Schulfreundin Beata aus der Parallelklasse aus dem Weg. Was ich denn über die beiden wüsste…? Nun, ich konnte ihm ehrlich sagen „nicht viel“, aber ich hatte so meine Vorstellungen, was zwischen den Mädchen vorgefallen war. Vom Junkie und dem Hahn und dem armen Kaninchen erzählte ich dem Lehrer nichts. Auf gar keinen Fall sollte das alles publik werden. Ich hatte ihn sogar angelogen, als er mich nach der psychologischen Beratung fragte. Herrje, so weit war es schon mit mir gekommen! Mein Gefühl sagte mir, dass ich meine Tochter in absehbarer Zeit nicht dazu bringen würde, zu dem psychologischen Beratungsgespräch mitzukommen, oder gar alleine hin zu gehen. Ich würde wohl besser den Termin nur für mich wahrnehmen, oder noch besser, für Robert und mich. Gemeinsam könnten wir mit Hilfe einer fachlichen Beratung unsere Tochter besser verstehen. Hoffte ich. Hannah war nie so schwierig gewesen, nie! Kinder sind wirklich verschieden wie Tag und Nacht.
Ich packte meine Muttersorgen in eine Gedanken-Kiste und widmete mich dann meinen Sorgen als Tochter einer dementen Mutter. Ging mit wachen Sinnen durch den Eingang des ansehnlichen Pflegeheimes und suchte das Büro der Heimleitung auf. Nach dem Gespräch und der Besichtigung fuhr ich wieder heim. Ich wünschte, ich hätte meine Ehesorgen unterwegs fallen
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