Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
etwas Ruhe zu finden. Doch er sah ständig vor seinem geistigen Auge eine weinende Melissa. Meinte zu hören, wie sie nach ihm rief. Sein Herz zerbrach in viele scharfkantige Teile. Auf jedem stand ihr Name geschrieben. Er sehnte sich so sehr nach ihr.
Der Sturm ließ langsam nach. Die Luft war merkwürdig weich geworden. Ein gewaltiger Donner kündete ein Gewitter an. Grelle Blitze erhellten die Umgebung. Als eine Regenflut einsetzte, rannte Robert schutzsuchend die Stufen zur Grabkapelle hinauf, wo Königin Katharina und ihr Gemahl König Wilhelm im 19. Jahrhundert ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Auch deren Tochter Marie Friederike Charlotte von Württemberg lag hier begraben. Robert erinnerte sich, dass Hannah einen Schulaufsatz über die königliche Familie geschrieben hatte, als sie noch die Grundschule besuchte. Ein besonders starker Blitz erhellte die Umgebung, als Robert den Himmel prüfend nach oben schaute. Sein Blick blieb an der für einen Moment lang sichtbaren Inschrift der Grabkapelle hängen: Die Liebe höret nimmer auf.
Vor Kälte zitternd und schaudernd drängte er sich schutzsuchend an das Sandsteingemäuer. Er trug keine Jacke, denn er war einfach so aus dem Lindenhaus gerannt. Wenigstens hatte er etwas Geld in der Hosentasche gehabt. Nach einiger Zeit merkte er, dass das Gewitter nicht nur die Wärme aus seinem Körper vertrieben hatte, sondern auch die Dämonen zum Schweigen gebracht. Innere Ruhe machte sich mehr und mehr in Robert breit und eine neue zarte Stimme flüsterte ihm zu. Er lauschte nach innen, um sie besser zu verstehen. Ja, tatsächlich. Er hatte richtig gehört: Die Liebe höret nimmer auf. Er spürte, dass dies die Wahrheit war. Seine Liebe zu Melissa hörte nicht auf. Auch Hannah und Miri würde er immer lieben, egal was geschah.
Das Unwetter ignorierend eilte er die vielen Stufen hinunter und rannte zum Auto. Er wusste, was er nun zu tun hatte.
In Endersbach, während des Gewitters …
Ich stand im Kiosk am Bahnhof Endersbach und schlürfte einen heißen Kaffee. Tränen standen in meinen Augen, aber nicht, weil der Kaffee mir die Zunge verbrühte, sondern weil ich wehmütig an Roberts Gewohnheit des „Kaffees mit Verstärkung“ denken musste. Draußen tobte inzwischen ein Gewittersturm, wie ich ihn lange nicht mehr erlebt hatte. Hoffentlich fiel kein Baum auf die Gleise. Der Zug hatte einige Verspätung. Ich vermisste nicht nur meinen Mann, sondern auch meine Töchter. Dass Hannah in Frankfurt lebte, machte mir mehr zu schaffen, als ich zugeben wollte. Ich hoffte, Miri und sie hatten ein schönes Wochenende miteinander verbracht. Meine Güte, was sollte ich Miri sagen, wenn sie nach ihrem Vater fragen würde? Was sollte ich Hannah sagen, wenn sie anrufen sollte, um mit ihrem Vater zu sprechen? Was sollte ich unserem Gesellen am Montag sagen? Ich wusste es nicht. Um mir die Zeit und die trüben Gedanken zu vertreiben, schaute ich mir den Zeitschriftenstand näher an und nahm verschiedene Hefte in die Hand.
Endlich fuhr die S-Bahn ein! Ich stellte den leeren Kaffeebecher auf dem Tresen ab und verließ grüßend den Kiosk. Wenig später traute ich meinen Augen nicht. Miri kam mir entgegen und hatte Hannah im Schlepptau! Sie trugen beide einen Koffer.
„ Mama, hallo! Schau, wen ich mitgebracht habe“, grinste Miri breit. „Überraschung!“
„ Das kann man wohl sagen. Was machst du denn hier, Liebes?“ Ich umarmte Hannah, die sich in meine Arme schmiegte. Trotz des kühlen Wetters fühlte ich, wie heiß ihre Haut war, ihre Wangen waren unnatürlich rot. „Sag mal, bist du krank? Du siehst ja ganz elend aus, mein Mädchen.“ Anstatt zu antworten, nickte Hannah und ließ sich noch ein wenig mehr in meine Arme sinken.
„ Schnell ins Auto. Gib Miri den Koffer.“
Hannah nickte ermattet und schlich, von mir gestützt, zum Wagen. „Warum kommst du denn mit dem Transporter?“, fragte sie mit heiserer Stimme.
„ Weil euer Vater mit dem Pkw unterwegs ist.“ Miri schob die Koffer hinter die lange, durchgehende Sitzbank, während ich Hannah beim Einsteigen half.
„ Seit wann bist du so erkältet?“
„ Ich bin nicht erkältet, aber über Nacht habe ich Fieber bekommen.“
Miri schaltete sich ein: „Ich habe Hannah überredet, nach Hause zu kommen. Sie wusste ja auch sonst nicht, wohin.“ Sie schaute mich mit bedeutungsvoller Miene an, während ich den Motor startete. Hannah stieß ihr den Ellenbogen in die Rippen und funkelte sie wütend an.
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