Melissas Welt (Mira und Melissa) (German Edition)
Weihnachtsbaum lagen hübsche Geschenke für alle Bewohner des Heimes, auch für die, die keine Angehörigen hatten. Sogar einen beliebten Posaunenchor aus der Gegend hatte die Heimleitung organisiert. Andererseits war es auch ein sehr trauriger Nachmittag für uns gewesen. Mutters Gesundheit hatte einen Besuch bei uns im Lindenhaus nicht zugelassen. Sie war seit zwei Wochen bettlägerig. Ich hatte mit dem Arzt am Telefon darüber gesprochen. Eine Ursache hätte er nicht feststellen können. Die Blutwerte seien, abgesehen von einem leichten Eisenmangel, völlig im Normbereich. Er vermute eine psychische Komponente. „Das ist gar nicht so selten, Frau Winter, dass Heimbewohner über hohe Feiertage hinweg sozusagen sterbenskrank sind, und kurz danach erheben sie sich wie weiland Lazarus, als wäre nichts gewesen. Damit wollen einige von ihnen unbewusst sicherstellen, dass sie besucht werden, andere hingegen möchten wirklich gern sterben, weil sie es nicht ertragen, an Weihnachten woanders als zuhause bei der Familie zu sein.“ Seine Worte trafen mich hart. „Aber wir besuchen Mutter doch wirklich oft!“ „Machen Sie sich keine Vorwürfe, das ist etwas, das sich unserem Einfluss entzieht.“
Ich wollte ihm wirklich gern Glauben schenken. Doch wenn ich Mutter so sah, wie sie still und blass im Bett lag, kamen mir Zweifel. War dies schon der Anfang vom Ende? Andererseits hatte sie unbedingt an der Feier teilnehmen wollen. Die Pfleger hatten ihr Bett schon in den Gemeinschaftsraum geschoben, als wir ankamen und mit ihrem noch drei weitere Betten von kranken Mitbewohnern. Meine Töchter umsorgten ihre Oma zärtlich mit Gebäck und unterhielten sie mit kleinen Anekdoten aus dem Alltag. Miri versprach ihr einen Besuch mit Galadriel. Im Gegenzug müsse sie sich aber Mühe geben, wieder kräftiger zu werden, damit Hannah sie dann im Rollstuhl nach draußen fahren könne, um das Alpaka aus der Nähe zu sehen und zu streicheln. In Mutters Augen leuchtete echtes Interesse auf. Nachdem dann alle Lieder gesungen und die Geschenke verteilt waren, schoben wir Mutter in ihr Zimmer zurück. Dort schlief sie ganz schnell ein und träumte hoffentlich etwas Schönes. Auf der Heimfahrt fragte ich meine Jüngste, wie sie sich das vorgestellt hätte mit dem Besuch. „Das lass ruhig meine Sorge sein, das kann ich zuwege bringen“, sagte sie zuversichtlich.
Die Straßen waren gut geräumt, und so kamen wir recht schnell nach Hause. Den Weihnachtsbaum, eine stark duftende Nobilistanne, hatten wir schon am Vormittag geschmückt. Er war groß und prächtig und füllte die halbe Diele aus. Die Mädels und ich hatten ihn sorgfältig geschmückt und mit vielen Lichterketten behangen. Im Wohnzimmer stand noch eine ganz kleine Nordmanntanne in der Ecke, die mit Honigkerzen, Strohsternen und kleinen, roten Äpfeln bestückt war. So praktisch und sicher elektrische Kerzen auch waren, es ging doch nichts über echten, sanften Kerzenschein, der viel stimmungsvoller war. Ich freute mich schon sehr darauf, im Wohnzimmer zu sitzen, Weihnachtsdüfte zu riechen und meinen Töchtern beim Auspacken ihrer Geschenke zuzusehen. Für Robert hatte ich das Buch Vom Zauber alter Gärten und ihrer Besitzer eingewickelt und mit einer schönen Schleife versehen. Ich hatte es zufällig in einem Antiquariat entdeckt und zu einem vermutlich überteuerten Preis erstanden. Ein herrlicher Bildband, mit schönen Texten versehen, aufwändig in der Verarbeitung. Genau das Richtige für meinen Mann. Für Miranda hatten wir Alpakawolle gekauft, ein Buch übers Spinnen und Weben, ein weiteres Buch über Haltung und Zucht von Neuweltkameliden und ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Ich liebe Alpakas“. Für Hannah hingegen war es schwieriger gewesen, ein passendes Geschenk zu finden, sie war so überaus pragmatisch und genügsam. Aber sie liebte Mittelaltermusik. Da hatten wir eine gute Auswahl an CDs vorgefunden, doch das wichtigere Geschenk waren zwei Eintrittskarten für ein großes Mittelalterfest in Ulm kommenden Sommer mit Konzerten und Ritterspielen. Was mir am meisten Freude beim Auswählen gemacht hatte, war ein passendes oliv-grünes Kleid im mittelalterlichen Stil! Es wies filigrane Stickereien auf. An den Seiten neben der Schnürung war Samt eingearbeitet, der von zarten, altrosa gefärbten Borten begrenzt wurde. Ein Traum! Hannah hatte eine unkomplizierte Figur, Größe 38 passte immer. Zunächst aber wollten wir es uns bei Stollen und Tee in der warmen Küche
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