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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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fragte sie und blickte auf all die Gräber, welche dem Mädchen in seiner Verlassenheit nun die einzigen Gesellschafter sein würden.
    ›Dies steht im Widerspruch zu dem Gelübde‹, so sagte Melmoth, ›das ihn nicht gestattet, ein weibliches Geschöpf bei sich zu dulden, es wäre denn in seinem Priesteramt.‹
    Dies gesagt, eilte er hinweg, und Isidora, erschöpft auf eines Grabes Rand hinsinkend, zog ihren Schleier ganz fest um sich, als könnten seine Falten sogar alles Denken von ihr fernhalten. Doch alsbald mußte sie ihn, nach Atem ringend, wieder abtun. Dieweil sich ihrem Blick aber bloß Grabsteine und Kreuze darboten, sowie jene düstere Kirchhofsvegetation, welche ihre Wurzeln vorzüglich in die Fugen der Totensteine senkt und dieselben mit ihrem freudlosen Grün überwuchert, schloß Isidora aufs neue die Augen und verharrte in ihrer hingekauerten, bebenden Verlassenheit. Wie sie so dasaß, drang unversehens ein schwaches, dem Raunen des Nachtwinds vergleichbares Geräusch an ihr Ohr, doch wurde sie im Aufblicken inne, daß eine völlige Windstille herrschte, und die Nacht vollkommen unbewegt war. Da aber jener an einen Windhauch gemahnende Laut aufs neue ertönte, wandte sie den Bück nach jener Richtung, aus der dies Geräusch zu kommen schien, und vermeinte, in einiger Entfernung, ganz an der Kirchhofsmauer, eine menschliche Gestalt sich langsam dahinbewegen zu sehen. Und obschon jener Schatten nicht näherzukommen schien (vielmehr beschrieb er einen stetigen Kreisbogen am Rande von Isidoras Gesichtsfeld), erhob sie sich in der Meinung, dies sei der zurückkehrende Melmoth. Allein, in diesem Moment verhielt die Gestalt ihren Schritt, wandte sich ab und schien dabei den Arm nach Isidora auszustrecken, um ihr langsam zu winken, doch war nicht zu erkennen, ob dies nur Warnung oder Abwehr bedeuten mochte. Danach setzte jener Schatten seine düstere und lautlose Wanderung fort, bis er gleich darauf in den Mauertrümmern untertauchte. Isidora aber fand keine Zeit, sich über die sonderbare Erscheinung Gedanken zu machen, da mittlerweile Melmoth an ihrer Seite aufgetaucht war und zum alsbaldigen Aufbruch drängte. Es gebe da, so erklärte er, eine zu dem Klostergemäuer gehörende Kapelle, welche sich indes noch nicht im Zustand des Verfalls befinde, sondern noch immer der Abhaltung heiliger Zeremonien diene, und so habe der einsame Gottesmann sich bereit erklärt, die Trauung daselbst unverzüglich vorzunehmen.
    ›Er ist schon auf dem Wege‹, versetzte Isidora, des Schattens gedenkend, welchen sie vorhin erblickt hatte. ›Ich glaube, ihn gesehen zu haben.‹
    ›Gesehen? Wen?‹ fuhr Melmoth auf und harrte bewegungslos auf Isidoras Antwort.
    ›Ich habe einen Schatten gesehen‹, erwiderte dieselbe erschaudernd, – ich glaube, daß eine Gestalt sich in Richtung auf jenes Gemäuer bewegt hat.‹
    ›Dies muß ein Irrtum sein‹, versetzte Melmoth, doch fuhr alsbald er fort: ›Wir hätten früher als er an jenem Ort erscheinen müssen.‹ Und eilends riß das Mädchen er mit sich, doch nur, um unvermittelt anzuhalten, wonach er heiser ihr die Frage stellte, ob sie noch niemals Töne wahrgenommen, etwelche Melodien in der Luft, die ihrem Stelldichein voraufgegangen?
    ›Noch niemals‹, war die Antwort.
    ›Und bist du des gewiß?‹ beharrte Melmoth.
    ›Vollkommen.‹
    Damit hatten sie die Kapelle erreicht und erklommen die zerfallenden, ausgetretenen Stufen, die zu dem Eingang emporführten. – Schon schritten sie unter dem düsteren, von Efeugerank überwucherten Vordach hindurch, – schon betraten sie das Innere der Kapelle, welches Isidora sogar im Dunkel der Nacht nur wüst und leer erschien.
    ›Er ist nicht da‹, sprach Melmoth voller Besorgnis. ›So warte hier, dieweil ich nach ihm sehe!‹ Und Isidora, vor Schrecken weder fähig, sich zu widersetzen, noch auch, Melmoth durch eine flehentliche Bitte zum Bleiben zu bewegen, bückte dem Entschwindenden untätig nach. Sie fühlte ja, daß jeder derartige Versuch zum Scheitern verurteilt war. Dergestalt verlassen, ließ sie den Blick in die Runde schweifen, indes der eben durch das schwere Gewölk hervorbrechende Mond mit seinem schwächlichen, schalen Abglanz die Gegenstände rings aus dem Dunkel treten ließ. Doch immer wieder ließ sie den Blick auf dem Fenster ruhen wie jemand, dem dies natürliche Licht ein Gesundbrunnen ist und ein Born der Wahrheit, bis unversehens eine Gestalt, welche langsam und in aller Deutlichkeit an den

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