Melmoth der Wanderer
Bündelpfeilern vorüberstrich, Isidora die Züge jenes bejahrten Dienstboten wies, derer sie sich nur zu gut entsann. Er schien sie zunächst in tiefer Versunkenheit anzustarren, dann wandelte der Ausdruck seines Blickes sich in Mitleid, worauf die Erscheinung unter dem Fenster vorbeischritt und mit einem schwachen, klagenden Aufschrei, welcher Isidora durch Mark und Bein ging, verschwand.
In diesem Augenblick ward der Mond, der das Kapelleninnere so fahl bisher erleuchtet hatte, aufgeschluckt von einer dunklen Wolke, und so lag ein jedes Ding in tiefster Finsternis, und Isidora konnte erst erkennen, daß Melmoth neben sie getreten war, als ihre Hand sie in der seinen fühlte, und sie ihn flüstern hörte: ›Er ist hier. – Er ist gekommen, um uns zu vermählen.‹ Das Mädchen, ob des lange hingeschleppten Entsetzens ihres Brautstands nicht mehr fähig, auch nur ein Sterbenswort sich abzuringen, es hing sich an den dargebotenen Arm, doch tat sie’s mehr aus Schwäche denn aus Liebe. Der Ort, die Stunde, alles um sie her, es war in abgrundtiefe Nacht versunken. Ein schwaches Rascheln ließ sich jetzt vernehmen, als näherte ein Dritter sich dem Paar, – doch mühte Isidora sich vergebens, die Worte zu verstehen, die sie hörte, – und auch die eigenen verstand sie nicht. Nur Finsternis und Nebel war um sie, – nur dumpfes, unverständliches Gemurmel, – sie fühlte nicht den Druck von Melmoth’s Hand, doch eines spürte sie: daß jene andre , die ihrer beider Hände nun vereinte, so grabeskühl war wie die Hand des Todes .«
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
Thl Ê meirgousi yucai, eidwla kamontwn [19]
Homer
»Es obliegt uns nun, in unserer Erzählung ein weniges zurückzublättern, bis zu jener Nacht, darin es Isidoras Vater, dem guten Don Francisco di Aliaga nach dessen eigenen Worten ›beschieden war‹, in jene Gesellschaft zu geraten, deren Unterhaltung einen so ungewöhnlichen Effekt auf ihn geübt hatte.
In dem verlotterten Wirtshaus, darin Logis zu nehmen er gezwungen war, fand er die Räumlichkeiten in so elendem Zustand, daß er es vorzog, sein Abendbrot im Freien, auf einer Steinbank gleich neben der Tür zur Wirtsstube, einzunehmen. Er war sich der Elendigkeit des Fraßes, an welchem er da würgte, und der Erbärmlichkeit des Gesöffs, das sich Wein benannte, gar wohl bewußt, als er eines reitenden Kavaliers ansichtig wurde, welcher sein Roß vor dem Wirtshaus zügelte und nicht übel Lust zu verspüren schien, daselbst abzusteigen. Er winkte den Wirt zu sich, welcher nur langsam und widerwillig an den Fremden herantrat, alle von demselben an ihn gerichteten Fragen beharrlich zu verneinen schien und, nachdem jener von dannen geritten, in seine Herberge zurückging, wobei er sich unter allen Anzeichen des Entsetzens und des Abscheus zu mehreren Malen bekreuzte.
Da solche Aufführung bei weitem das Maß der einem spanischen Herbergsvater eigenen Unfreundlichkeit überschritt, wurde Don Franciscos Neugierde geweckt, und so fragte er den Wirt, ob denn der Fremdling angesichts des heraufziehenden Unwetters etwa ein Obdach für die Nacht begehrt hätte?
›Ich weiß nicht, was er begehrt‹, versetzte der Gefragte. ›Was ich weiß, ist nur eines: Nicht für die Steuereinnahmen von ganz Toledo wollte ich ihn auch nur eine Stunde lang unter meinem Dache dulden. Was schert’s mich, ob da ein Sturm aufkommt oder nicht? Diejenigen, die ihn zu rufen verstehen, werden ihm auch am besten zu begegnen wissen!‹ Euer Gnaden müssen wohl fremd in dieser Gegend sein, weil Sie noch nichts von Melmoth dem Wandrer vernommen.‹
›In der Tat, der Name ist mir neu‹, versetzte Don Francisco ›und ich beschwöre Euch, guter Mann, mir doch zu erzählen, was Ihr von diesem Menschen wißt, dessen Wesen, nach der Art Eurer Worte zu schließen, recht ungewöhnlich sein dürfte!‹
›Senor‹, versetzte jener, ›erzählte ich Euch, welche Dinge über diesen Kerl im Umlauf sind, dann könnte ich heute nacht wohl kaum ein Auge schließen. Allein, wenn ich mich recht besinne, so logiert in meinem Hause jemand, der recht wohl imstande sein sollte, Eure Wißbegier zufriedenzustellen. – Es ist ein Kavalier, welcher eine Kollektion von Tatsachen, die auf besagte Person Bezug nehmen, für einen Traktat vorbereitet, und sich seit geraumer Zeit vergebens um eine Lizenz bemüht, denselben auch drucken zu dürfen, dieweil es in dem weisen Ratschluß der Obrigkeit liegt, die Art der aufgeführten Begebenheiten als
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