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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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zu nehmen, und da ihn um die nämliche Zeit das Handelsangebot eines im fernen Indien lebenden Anverwandten erreichte, wurde er verlockt, sich mit seinem Eheweib sowie seinem Sohn nach jenen entlegenen Breiten einzuschiffen, seine erst vor kurzem geborene Tochter aber in Soanien zurückgelassen.‹
    ›Dies erinnert mich in allem und jedem an meinen eigenen Fall‹, meinte Aliaga, die Absicht seiner Erzählung noch immer nicht durchschauend.
    ›Es bedurfte bloß zweier Jahre einträglichen Handels, unserm Kaufherrn wieder zu einem Wohlstand zu verhelfen, in dessen reichliche Mehrung er die berechtigsten Hoffnungen setzen durfte. Dergestalt ermutigt, beschloß besagter Handelsmann, sich im fernen Indien ansässig zu machen, und traf die erforderlichen Anstalten, seine Tochtey mit deren Amme übers weite Meer nachkommen zu lassen. Dieselben schifften sich denn auch mit der nächsten Gelegenheit, welche in jenen Tagen freilich höchst selten war, nach dem fernen Osten ein.‹
    ›Dies erinnert mich tatsächlich in jedem Punkt an meinen eigenen Fall!‹ verwunderte sich Aliaga, dessen Geisteskräfte gewißlich nicht die größten waren.
    ›Das Schiff geriet in einen Orkan und scheitelte an einem Eiland, welches nahe der Mündung eines großen Stromes liegt. Dabei kam das gesamte Schiffsvolk zusammen mit den Passagieren ums Leben. Doch wurde späterhin erzählt, einzig die Amme und das Mädchen seien verschont geblieben. Ein günstiger Stern, so hieß es, habe sie jenes Eiland erreichen lassen, woselbst die Amme an Erschöpfung und Mangel an Nahrung umgekommen, das hilflose Kleine jedoch am Leben geblieben und zu einer wilden und schönen Tochter der Natur herangewachsen sei, welche sich von Früchten genährt, unter Rosen geschlafen, das reine Element getrunken, die Düfte des Himmels geatmet und mit den wenigen Worten jener christlichen Sprache, die ihre Amme sie gelehrt, dem Gesang der Vögel und dem Gemurmel der Wasser geantwortet habe, die so völlig im Einklang mit der reinen und heiligen Musik des entrückten Kinderherzens getönt hätten.‹
    ›Von all dem hab’ ich mein Lebtag nichts gehört‹, brummte Aliaga vor sich hin, indes der Fremde in seiner Erzählung fortfuhr.
    ›Des weitern wird erzählt, ein Schiff in Seenot habe jenes Eiland angelaufen, – der Kapitän habe jenes liebliche, verlassene Wesen vor der Roheit der Seeleute bewahrt und, infolge der wenigen Worte spanischer Zunge, derer die Gerettete noch mächtig gewesen und von denen er vermutete, daß irgendein auf dies Eiland Verschlagener sie aufgefrischt habe, es als ein Mann von Ehre unternommen, das Mädchen wieder mit seinen Eltern zu vereinen, deren Namen sie noch behalten, deren Aufenthalt sie aber vergessen hatte. Woraus man leichtlich ersieht, wie klar und treulich das Gedächtnis eines Kindes gewisse Dinge bewahrt. Der Kapitän stand zu seinem gegebenen Wort, und so wurde dies reine und unschuldige Wesen wieder seiner Familie zugeführt, welche zu jener Zeit in der Stadt Benares ihren Wohnsitz genommen.‹ Erst bei diesen Worten ging Aliaga ein Licht auf, und er starrte den Fremden entgeistert an. Nicht imstande, denselben zu unterbrechen, hielt er aber bloß den Atem an und biß sich auf die Lippen.
    ›Seither ist mir zu Ohren gekommen‹, fuhr der Erzähler fort ›die Familie sei nach Spanien zurückgekehrt, – die schöne Bewohnerin jener fernen Insel sei nun der Abgott Eurer Kavaliere in Madrid, – Eurer am Prado herumlungernden Stutzer, – Eurer sacravienses , – Eurer – mit welchem anderen Schimpfwort wünscht Ihr, daß ich sie bezeichne? Doch hört mich weiter an: ein Auge aber ruht auf ihr, dessen Macht tödlicher ist als jene Eurer legendären Schlange! – Ein Arm ist nach ihr ausgestreckt, unter dessen Zugriff alles, was da menschliche Züge trägt, verdorren muß! – In eben diesem Moment freilich ist dieser Arm zurückgezogen, – seine Fasern erzittern vor Mitleid und Entsetzen, – für eines Augenblickes Kürze hat er von seinem Opfer abgelassen, – und nun winkt er gar dessen Vater zu ihrer Hilfe herbei! – Don Francisco – habt Ihr nun verstanden? – Hat diese Geschichte vermocht, Eure Anteilnahme zu erwecken?‹
    Er schwieg, doch Aliaga, vor Schreck erstarrt, war nicht fähig, mehr als einen erstickten Laut hervorzubringen. ›Wenn dem so ist‹, so schloß der Fremde, ›so verliert keine Sekunde mehr, sondern eilt, Eure Tochter zu retten!‹ Und, indem er seinem Maultier die Sporen in die Flanken

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