Melmoth der Wanderer
schlug, verschwand er in einer engen Felsenkluft, die nimmer für einen Erdenwanderer bestimmt schien.
Es scheint nahezu unglaublich, daß Don Francisco nach solcher Warnung, die noch dazu verstärkt wurde durch die von dem Warner an den Tag gelegte, perfekte Kenntnis von Aliagas Vorgeschichte und familiären Umständen, sich nicht bewogen gefühlt, stehenden Fußes heimwärts zu eilen, und dies um so mehr, als ihm die Sache ja wichtig genug vorgekommen, um sie zum Gegenstand einer Korrespondenz mit seinem Eheweib zu machen. Es scheint unglaublich.
Im Moment, da der Fremde sich aus dem Staube gemacht, war Aliaga freilich entschlossen gewesen, seine Heimreise keinen Augenblick länger hinauszuschieben. Allein, schon an seinem nächsten Rastplatz lagen einige Geschäftsbriefe für ihn bereit. Ein befreundeter Kaufherr machte ihm darin Mitteilung vom voraussichtlichen Zusammenbruch eines Handelshauses in einem entlegenen Teil Spaniens, beteuernd, daß nur Aliagas unverzügliches Erscheinen das Ärgste werde abwenden können. Auch von Montilla, dem künftigen Eidam, war Nachricht eingetroffen, des Inhalts, daß der Gesundheitszustand von dessen Vater zu gefährdet sei, als daß der Sohn vor des alten Mannes Tod abreisen könnte. Da aber solches Schicksal den Reichtum des Sohnes nicht minder betraf als das Leben des Vaters, wollte es Aliaga bedünken, daß in solcher Entscheidung ebensoviel Sohnesliebe wie Klugheit beschlossen liege.
Nachdem er all die Briefe gelesen hatte, begann Aliagas Denken wieder in den gewohnten Trott zu verfallen. Eher brächte man ja einen Toten zum Reden, als eine ausgekochte Krämerseele dazu, von ihren eingefleischten Gewohnheiten zu lassen. Überdies verblaßte ja schon nach wenigen Tagen das so rätselvolle Bild, welches das Erscheinen und die Mitteilungen des Fremden in einem Gemüt zurückgelassen, das so gar nicht an derlei Visionen gewohnt war. So schüttelte Aliaga die Schrecken solcher Heimsuchung alsbald von sich ab und machte sich auf den Weg nach jener entlegenen Gegend Spaniens, wo seine Anwesenheit ein wankendes Handelshaus retten sollte und damit auch die bträchtlichen Kapitalien, welche er selbst darin stecken hatte. In diesem Sinn schrieb er an Donna Clara, ihr mitteilend, es werde wohl noch so mancher Monat ins Land ziehen, bis der Schreiber dieser Zeilen auf dem Landsitz bei Madrid werde eintreffen können.«
EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL
Mein Mann, mein Mann, ich trag’ den Ring,
Du gabst ihn heute mir;
Und bist auf ewig mir vermählt,
Wie ich verbunden dir!
Little: Gedichte
»Die verbleibenden Stunden jener Schreckensnacht, da Isidora verschwunden war, wurden von Donna Clara in der tiefsten Verzweiflung hingebracht, die weil ihr ja unerachtet all der ihr eigenen Starre und frostigen Mediokrität noch immer ein Mutterherz im Busen schlug. Auch der Pater José war aufs höchste beunruhigt, da ja auch er ungeachtet seines eigensüchtigen Schlemmertums und der Freude an seiner dominierenden Stellung ein Herz sein eigen nannte, an dessen Pforte der Kummer noch niemals vergeblich um Mitleid gefleht hatte.
Donna Claras verzweifelter Gemütszustand wurde noch verschlimmert ob ihrer Furcht vor dem Gemahl, dem sie großen Respekt entgegenbrachte und von dem sie fürchtete, er werde ihr die schwersten Vorwürfe wegen der Vernachlässigung ihrer mütterlichen Pflichten machen.
Oft genug war sie in dieser Unheilsnacht versucht, sich um Rat und Hilfe an ihren Sohn zu wenden, doch schreckte der Gedanke an dessen reizbares Temperament sie von solchem Vorhaben ab, und so blieb sie bis zum Morgen in stummer Verzweiflung auf ihrem Platz sitzen. Mit Tagesanbruch jedoch erhob sie sich und eilte ins Zimmer ihrer Tochter, getrieben von dem unbestimmten Gefühl, die Ereignisse der vergangenen Nacht würden sich dergestalt bloß als eine beängstigende und trügerische Einbildung herausstellen, welche sich mit dem Tageslicht in nichts auflösen werde.
Donna Clara schien in der Tat recht zu behalten, denn sie traf ihre Tochter in tiefem Schlaf auf deren Bett liegend an, wobei ein so reines und friedliches Lächeln der Schlummernden Züge verklärte als hätte die Natur das Mädchen in Schlaf gesungen, und als tönte solches Schlummerlied nun in ihrem Traume fort als die raunenden Gesänge jenes fernen Eilandes im Indischen Ozean. Der Aufschrei, welcher der überraschten Mutter entfuhr, war so gellend, daß er, ungewöhnlich genug, sogar den Pater José aus dem gottgesegneten Schlaf
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