Melmoth der Wanderer
Abend nach jenem Todesfall geschah es, daß zu meiner größten Überraschung der Pater Superior in Begleitung von vier Mönchen meine Zelle betrat. Ich spürte sogleich, daß dieser Besuch für mich nichts Gutes bedeuten konnte.
Mit sanfter Stimme hub der Pater Superior an: ›Mein Sohn, du hast dich seit geraumer Zeit recht eingehend mit deiner Gewissenerforschung beschäftigt – das war lobenswert. Indes, hast du dich auch wirklich jeder Sünde bezichtigt, deren dein Gewissen dich anklagt?‹
›Gewiß, mein Vater.‹
›Wirklich jeder? Bist du dessen sicher?‹
›Mein Vater, ich habe mich aller Vergehen bezichtigt, deren ich mir bewußt war. Aber wer außer Gott vermöchte es, in die Abgründe des Menschenherzens zu blicken? Ich habe das meine nach besten Kräften durchforscht.‹
›Und hast sämtliche Anklagepunkte aufgezeichnet, welche du vorgefunden?‹
›Dies habe ich getan.‹
›Aber auf das eine Verbrechen bist du nicht gestoßen? Auf das Verbrechen, dir die Mittel zur Niederschrift deines Bekenntnisses verschafft zu haben, um dann dieselben zu gänzlich anderem Zweck zu mißbrauchen?‹
Dies traf den Nagel auf den Kopf. Ich fühlte die Notwendigkeit, all meine Entschlußkraft zusammenzunehmen, und erwiderte mit nur allzu begreiflicher Zweideutigkeit: ›Dies ist ein Verbrechen, dessen mein Gewissen mich nicht anklagt .‹
›Mein Sohn, versuche weder dein Gewissen noch mich zu täuschen, den du doch über jenes stellen müßtest: denn führt dein Gewissen dich in die Irre, so bin ich es, an den du dich wenden sollst, auf daß ich es erleuchte und auf den rechten Weg leite. Doch ich sehe, es ist vergebens, dein Herz rühren zu wollen. Diese einfachen Worte sind mein letzter Versuch. Es verbleiben dir nur noch wenige Augenblicke der Schonung. Nutze sie oder verwirf sie, ganz wie du willst. Ich habe dir nur ganz wenige, eindeutige Fragen zu stellen. Beantwortest du sie nicht, oder nicht der Wahrheit entsprechend, dann komme dein Blut über dein Haupt.‹
Ich erbebte, sagte aber: ›Mein Vater, habe ich mich denn geweigert, Eure Fragen zu beantworten?‹
›Deine Antworten sind entweder Gegenfragen oder bloße Ausflüchte. Du mußt aber klar und einfach auf das antworten, was ich dich nun im Beisein dieser Brüder fragen werde: Du hast eine sehr große Menge Papier gefordert – wie hast du es verwendet?‹
Ich nahm mich zusammen und erwiderte: ›Ganz wie man es von mir erwartet hat.‹
›Also indem du dein Gewissen erleichtertest?‹
›Jawohl, indem ich mein Gewissen erleichterte.‹
›Du lügst. Nicht einmal der größte Sünder auf Gottes Erdboden könnte mit seinen Verbrechen so viele Seiten beflecken.‹
›Man hat mir im Kloster oft genug gesagt, ich sei der größte Sünder auf Gottes Erdboden.‹
›Schon wieder redest du mit gespaltener Zunge und verkehrst deine Zweideutigkeiten in Vorwürfe. Das hilft dir aber nichts, denn du mußt in aller Klarheit antworten: zu welchem Zweck also hast du dir so viel Papier verschafft, und welchen Gebrauch hast du davon gemacht?‹
›Dies habe ich Euch bereits gesagt.‹
›Du hast es also für die Niederschrift deiner Beichte verwendet?‹ – Ich blieb stumm, verneigte mich aber zustimmend. – ›Nun, so kannst du uns ja den Beweis deiner Pflichteifrigkeit vor Augen führen. Wo hast du das Manuskript, welches diese Beichte enthält?‹
Ich errötete und wies zaudernd auf das Halbdutzend tintenbefleckter und bekritzelter Blätter, welches meine Beichte ausmachte. Es war nur zu lächerlich –, das Ganze nahm noch nicht einmal ein Zehntel des Papiers ein, das ich erhalten hatte.
›Und dies ist deine Beichte?‹
›Dies ist sie.‹
›Und da wagst du zu sagen, du hättest all das Papier, welches dir zu diesem Zweck anvertraut worden ist, dafür verwendet?‹ – Ich schwieg. – ›Du armseliger Wicht‹, sprach der Superior, welcher nun alle Geduld verloren hatte, ›gestehe augenblicklich, zu welchem Zweck du das Papier verwendet hast! Gib zu, hier und jetzt, daß es zu einem Zweck war, welcher dem Wohl dieses Hauses zuwiderläuft!‹
Seine Stimme hatte, als er dies sagte, einen leidenschaftlichen Ton angenommen, wodurch auch meine Leidenschaft wieder angefacht wurde. So sagte ich: ›Ihr habt kein Recht, mein Vater, solche Enthüllung von mir zu fordern.‹
›Ob Recht oder nicht, ist hier nicht die Frage. Ich befehle dir zu sprechen. Ich verlange, daß du vor dem Altar Jesu Christi und dem Bildnis Seiner Allerheiligsten Mutter
Weitere Kostenlose Bücher