Melmoth der Wanderer
schreckten mich zwar ein wenig ab, doch antwortete ich, wie man es von mir erwartete, und schon trat auch der Beichtvater auf mich zu. Er war die Liebenswürdigkeit in Person und lenkte das Gespräch sogleich auf unverfängliche Dinge. Ich antwortete ihm – welche Anstrengung mich das kostete! –, doch ich antwortete ihm mit aller Bitternis der erzwungenen Höflichkeit. Trotzdem ging alles trefflich vonstatten. Die Familie schien über meine Wiederherstellung des Dankes voll zu sein. Mein Vater, der ewigen Plagen müde, war froh, einen bedingungslosen Frieden zu schließen. Meine Mutter, von ihren Gewissenskämpfen und den Vorstellungen des Beichtvaters noch mehr erschöpft, weinte bloß vor sich hin und gab vor, sich glücklich zu fühlen. Und seither ist ein voller Monat in tiefem, aber trügerischem Frieden dahingegangen. Alle haben sich daran gehalten. Sie wiegen sich in dem Glauben, mich unterworfen zu haben, jedoch ...
In der Tat, die Machtanstrengungen, welche der Beichtvater in meiner Familie unternimmt, würden allein schon genügen, um mich zu überstürzten Entscheidungen zu treiben. Er hat Dich in ein Kloster verbannt, doch ist dies der beharrlichen Bekehrungssucht der Kirche noch nicht genug: unter seinem Einfluß wurde selbst der Palast der Moncada in ein Kloster verwandelt. Meine Mutter ist fast schon zur Nonne geworden, ihr ganzes Leben erschöpft sich im Flehen um Vergebung für ein Verbrechen, um dessentwillen ihr der Beichtvater – in Ansehung seines eigenen Einflusses – Stunde um Stunde neue Bußübungen auferlegt. Mein Vater schwankt zwischen seinen zügellosen Gewohnheiten und der äußersten Beschränkung hin und her, – er weiß nicht mehr, soll er sein Trachten auf das Diesseits oder schon aufs Jenseits richten.
Mein Fieber ist abgeklungen, ich habe Deine Interessen nicht einen Moment aus den Augen verloren, mir ist zu Ohren gekommen, daß es noch eine Möglichkeit gibt, Dich Deine Gelübde widerrufen zu lassen, und zwar – so ist mir gesagt worden –, indem Du erklärst, dieselben seien Dir durch betrügerische Machenschaften und unter Schreckensdrohungen abgepreßt worden. Sorge Dich nicht um irgendwelche Hilfsquellen, mir ist es möglich, Dir dieselben zu öffnen. Läßt Du es nicht an Entschlossenheit mangeln, so zweifle ich nicht an unserem endgültigen Erfolg. – An unserem , ich sage es ausdrücklich, denn ich kann so lange keinen Frieden mehr finden, als Du nicht die Freiheit erlangt hast. Ich habe mit der Hilfe meiner jährlichen Apanage einen der Domestiken, den Bruder Eures Klosterpförtners bestochen, diesem meine Zeilen für Dich zu übergeben. Bediene Dich zur Antwort des nämlichen Weges, er ist verschwiegen und sicher. Du mußt, so höre ich, eine Denkschrift aufsetzen, welche in die Hände eines Advokaten gelangen soll. Sie muß aufs bestimmteste abgefaßt sein, darf jedoch – dies bitte ich Dich zu bedenken – mit keinem Wort unsere unglückliche Mutter erwähnen. Das ihrem leiblichen Sohn sagen zu müssen, treibt mir die Schamröte in die Wangen. Verschaff Dir auf irgend eine Weise Schreibpapier. Solltest Du dabei auf Schwierigkeiten stoßen, will ich es Dir besorgen. Indes bitte ich Dich, um jeden Verdacht und ein zu häufiges Vorsprechen bei dem Pförtner zu vermeiden, dies von Dir aus ins Werk zu setzen. Deine klösterlichen Pflichten werden Dir schon einen Vorwand liefern, Dein Bekenntnis schriftlich niederzulegen. – Ich will sodann für dessen sichere Beförderung Sorge tragen. Nunmehr empfehle ich Dich in Gottes heilige Obhut – nicht in die des Gottes der Pfaffen und Beichtväter, sondern in jene des Gottes der Natur und des Erbarmens – und verbleibe Dein Dich liebender Bruder
– Juan de Moncada
Soweit der Inhalt jener Blätter, welche ich nach und nach durch Vermittlung des Klosterpförtners in die Hände bekam. Das erste Blatt verschluckte ich sogleich nachdem ich es gelesen hatte, und auch bei den anderen fand ich Mittel und Wege, sie so unbemerkt zu beseitigen wie ich sie erhalten hatte: meine Wärterstelle in der Krankenstube räumte mir ja so manches beträchtliches Vorrecht ein.«
An dieser Stelle seiner Erzählung angelangt, wurde unser Spanier dermaßen verstört, wenngleich mehr aus innerer Erregung denn aus körperlicher Ermüdung, daß Melmoth ihn eindringlich ersuchte, doch für einige Tage auszusetzen, welcher Bitte der erschöpfte Erzähler denn auch bereitwillig entsprach.
SECHSTES KAPITEL
Wagt euch nicht näher
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