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Melmoth der Wanderer

Melmoth der Wanderer

Titel: Melmoth der Wanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles R. Maturin
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heran,
    ihr Luftgebilde der Toten.
    Homer

     
    Als nach mehrtägiger Unterbrechung der Spanier zu beschreiben versuchte, welcher Art seine Gefühle beim Empfang von des Bruders Brief gewesen waren, und wie er nach dessen genauer Lektüre ein plötzliches Wiederaufleben des Herzens und der Hoffnung, ja des gesamten Daseins empfunden, wurde er von einem Zittern befallen, gab irgendwelche unartikulierte Laute von sich und brach schließlich in Tränen aus. Solches Aufgewühltsein erschien unserem Melmoth in all seinen nichtkontinentalen Gefühlen heftig genug, um sogleich in den Erzähler zu dringen, er möge sich doch die Beschreibung seiner Empfindungen ersparen und lieber in seinem Bericht fortfahren.

     
    »Ihr habt ja recht (sagte der Spanier, indem er sich die Tränen wegwischte), die Freude ist bloß eine Konvulsion, aber der Kummer eine Gewohnheit, und die Beschreibung dessen, was sich unserem Mitteilungsvermögen entzieht, ist um nichts weniger abwegig, als einem Blinden von Farben zu sprechen. So will ich denn unverweilt fortfahren, freilich nicht mit der Schilderung meiner Gefühle, sondern der Ergebnisse, welche von ihnen dann gezeitigt worden. Nämlich, eine neue, hoffnungsvolle Welt war mir nun wieder aufgetan. Der Klostergemeinschaft gegenüber legte ich eine ungewöhnliche Aufgeräumtheit an den Tag, obschon ich auch in meiner neuen Lage niemals jene peinliche Vorsicht außer acht ließ, welche mein Bruder zu beobachten mir eingeschärft hatte.
    Die Fastenzeit war herangekommen, und jedermann im Kloster bereitete sich auf die große, österliche Beichte vor. Das Haus summte von einer lautlosen Unruhe, welche meinen Absichten trefflich zustatten kam, weil ich so die gewünschte Gelegenheit fand, immer wieder, von einer Stunde zur nächsten, nach Schreibpapier für meine Gewissensforschung zu begehren. Man händigte es mir zwar aus, doch die Häufigkeit meines Verlangens erweckte Verdacht. Man konnte sich nicht vorstellen, was ich denn so vieles aufzuzeichnen hätte.
    Nur noch wenige Nächte trennten uns von der österlichen Beichte, als ich mich anschickte, dem Pförtner den letzten Packen meiner Denkschrift anzuvertrauen. Bislang hatten unsere Zusammenkünfte keinerlei Verdacht geweckt. Ich hatte meines Bruders Nachrichten empfangen und beantwortet, und unsere Korrespondenz hatte sich in einer Heimlichkeit vollzogen, wie sie in den Klöstern wohl ohne Beispiel dasteht. In jener letzten Nacht aber, da ich meinen Stoß beschriebener Blätter in des Pförtners Hände legte, gewahrte ich, daß ein erschreckender Wandel mit ihm vorgegangen war. Bisher war er ein stattlicher, kräftiger Bursche gewesen, jetzt aber konnte ich selbst unter dem schwachen Schein des Mondes erkennen, daß jener zum Schatten seiner selbst geworden: seine Hände bebten, als er meine Blätter entgegennahm, und seine Stimme schwankte, als er mir wie gewöhnlich seine Verschwiegenheit gelobte. Dieser Wandel, schon längst ein Objekt der Beobachtung für das ganze Kloster, war mir bis zur Stunde entgangen. Zu sehr hatte ich all mein Sinnen und Trachten auf die eigene Lage gerichtet. Nun aber fiel diese Veränderung auch mir auf, und ich fragte: ›Was ist dir, mein Freund?‹
    ›Dies fragst du? Ich bin zum Gespenst geworden über dem fürchterlichen Geschäft, zu welchem ihr mich verleitet habt. Weißt du denn, was ich da auf Spiel setzte? Einkerkerung fürs Leben – oder vielmehr für den Tod! Vielleicht sogar eine Anzeige bei der Heiligen Inquisition! Jede Zeile, welche ich dir übergebe oder von dir erhalte, ist ein Teil der Anklageschrift gegen meine eigene Seele, – ich zittere, wann immer ich dir begegne. Du bist es, der den Schlüssel zu meinem Leben wie zu meinem Tod in Händen hält, sowohl was das Diesseits, als auch was das Jenseits betrifft.‹
    Ich versuchte, ihn zu besänftigen, ihm seine Sicherheit wiederzugeben, doch konnte ihn nichts beruhigen als meine ernste und aufrichtige Zusage, dies sei die letzte Sendung, welche ich ihn zu befördern jemals bitten würde.
    Der Mann war wohl verläßlich, aber zugleich ein Hasenfuß. Wieviel Verlaß aber ist schon auf einen Menschen, dessen Rechte sich euch entgegenstreckt, während seine Linke schon davor zittert, daß euer Geheimnis ihr vom Feind entrissen werde? Wenige Wochen später war er dann auch eine Leiche, und ich glaube, daß ich seine bis in den Tod bewahrte Verschwiegenheit lediglich dem Fieberwahn zu danken habe, welcher ihn in den letzten Stunden umfangen.
    Am

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