Melodie der Liebe
müden Augen nach unten kam. Der graue Hund und er tauschten mitfühlende Blicke aus. Yuri hatte am Abend zuvor großzügig Wodka ausgeschenkt. An Gäste und Haustiere. Momentan kam es Spence vor, als wäre sein Kopf ein Steinbruch. Und zwar einer in Hochbetrieb. Glücklicherweise war dader Duft vom Backen und, besonders willkommen, von Kaffee. Sonst hätte er den Weg in die Küche vermutlich nie gefunden.
Nadia reichte ein Blick. Lachend wies sie auf den Tisch. „Setzen Sie sich.“ Sie goss ihm den star-ken, pechschwarzen Kaffee ein. „Trinken Sie. Ich mache Ihnen Frühstück.“
Spence nahm die Tasse zwischen beide Hände und trank, als wäre es der letzte Schluck in seinem Leben. „Danke. Aber lassen Sie sich nicht stören.“
Nadia machte eine abwehrende Handbewegung und griff nach einer gusseisernen Bratpfanne. „Ich sehe Ihnen doch an, was für einen Riesenkater Sie haben. Yuri hat Ihnen zu viel Wodka eingeschenkt.“
„Nein, nein. Das habe ich mir selbst eingebrockt.“ Er öffnete die Aspirin-Flasche, die sie ihm auf den Tisch stellte. „Sie sind ein Engel, Mrs. Stanislaski.“
„Nadia. Wer sich in meinem Haus betrinkt, nennt mich Nadia.“
„So habe ich mich seit dem College nicht mehr gefühlt.“ Mit diesen Worten schluckte er gleich drei Aspirin hinunter. „Möchte bloß wissen, warum mir das damals Spaß gemacht hat.“ Er rang sich ein müdes Lächeln ab. „Irgendetwas riecht ganz wunderbar.“
„Meine Pasteten werden Ihnen schmecken.“ Sie schob die dicken Würste in der Pfanne hin und her. „Sie haben Alex in der Nacht getroffen.“
„Ja.“ Spence lehnte nicht ab, als sie ihm die Tasse erneut füllte. „Das war Grund genug, sich noch einen Drink einzugießen. Sie haben eine großartige Familie, Nadia.“
„Sie macht mich stolz. Sie macht mir Sorgen. Sie wissen, wovon ich rede. Sie haben ja eine Tochter.“
„Ja.“ Er lächelte und stellte sich vor, wie Natasha in einem Vierteljahrhundert aussehen würde.
„Natasha ist die Einzige, die weit weggezogen ist. Um sie sorge ich mich am meisten.“
„Sie ist sehr stark.“
Nadia nickte nur und schlug Eier in die Pfanne. „Sind Sie ein geduldiger Mensch, Spence?“
„Ich glaube schon.“
Nadia sah über die Schulter. „Seien Sie nicht zu geduldig.“
„Komisch. Genau das hat Natasha mir auch gesagt.“
Mit zufriedener Miene steckte sie Brot in den Toaster. „Schlaues Mädchen, meine Tochter.“
Die Küchentür ging auf. Alex, dunkelhaarig, mit schweren Lidern und zerknittert aussehendem Gesicht, kam grinsend herein. „Ich rieche ein köstliches Frühstück.“
Der erste Schnee fiel. Kleine, fast durchsichtige Flocken, die vom Wind herumgewirbelt wurden und sich auflösten, bevor sie den Boden erreichten. Es gab Dinge, das wusste Natasha, die wunderschön und liebenswert waren, obwohl sie nur für kurze Zeit blieben.
Sie stand allein da, dick vermummt gegen die Kälte, die sie nur innerlich spürte. Das Licht war ein blasses Grau, wirkte aber wegen der winzigen herumtanzenden Flocken nicht trübe. Blumen hatte sie nicht mitgebracht. Das tat sie nie. Auf dem kleinen Grab würden sie viel zu traurig aussehen.
Lily. Mit geschlossenen Augen erinnerte sie sich daran, wie es gewesen war, das junge, zerbrechliche Leben in den Armen zu halten. Ihr Baby. Malenka. Ihr kleines Mädchen. Sie dachte an die hübschen blauen Augen, die feingliedrigen Miniaturhände.
Wie die Blume, nach der sie benannt worden war, so war auch Lily schön gewesen und hatte ein viel zu kurzes Leben gehabt. Rot und faltig war sie gewesen, mit winzigen Fäusten, als die Schwester sie zum ersten Mal in Natashas Arme gelegt hatte. Und selbst jetzt spürte sie das schmerzhafte, aber nicht unangenehme Ziehen in der Brust, das sie empfunden hatte, wenn sie Lily stillte. Sie erinnerte sich an die weiche Haut und den Duft von Puder und Creme und daran, wie herrlich es gewesen war, mit dem Baby an der Schulter im Schaukelstuhl zu sitzen.
So schnell vorbei, dachte Natasha. Einige unschätzbare Wochen. So sehr sie auch nachdachte, so oft sie auch betete, nie würde sie verstehen. Sich damit abfinden vielleicht, aber verstehen nie.
„Ich liebe dich, Lily.“ Sie bückte sich und presste eine Handfläche auf das kalte Gras. Dann richtete sie sich auf, drehte sich um und ging durch den wirbelnden Schnee davon.
Wohin war sie nur gefahren? Es gab mindestens ein Dutzend Möglichkeiten. Spence wusste, dass es dumm war, sich Sorgen zu machen. Trotzdem war er
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