Melodie der Liebe
Stanislaskis verlauten lassen, dass ihre Tochter mit Freunden zu Besuch kam, und die Nachbarn hatten den Wink verstanden.
So sind die Leute hier, dachte sie. Seit sie sich erinnern konnte, wohnten die Poffenbergers auf der einen, die Andersons auf der anderen Seite. Die Familien brachten einander Essen, wenn jemand krank war, oder passten nach der Schule auf die Kinder auf. Freud und Leid wurde miteinander geteilt, und natürlich blühte der Klatsch.
Mikhail war häufiger mit der hübschen Tochter der Andersons ausgegangen und war schließlich Trauzeuge gewesen, als sie einen seiner Freunde heiratete. Natashas Eltern waren bei einem der Poffenberger-Babys Taufpaten. Vielleicht hatte sie sich deshalb eine Kleinstadt für ihr neues Leben ausgesucht. Shepherdstown sah zwar nicht so aus wie Brooklyn, aber die Menschen waren einander so nah wie hier.
„Woran denkst du?“ fragte Spence sie.
„Es ist gut, wieder hier zu sein“, erwiderte sie mit glücklichem Lächeln. Sie stieg aus und zog in der frostigen Luft die Schultern zusammen, bevor sie Freddie die Tür öffnete. „Schläfst du etwa?“
Freddie blieb zusammengekauert sitzen, riss aber die Augen auf. „Nein.“
„Wir sind da. Alles aussteigen.“
Freddie schluckte und presste ihre Puppe an die Brust. „Und wenn sie mich nun nicht mögen?“
„Wie kommst du denn darauf?“ Natasha beugte sich in den Wagen und schob Freddie das Haar aus dem Gesicht. „Hast du geträumt?“
„Vielleicht wollen sie nicht, dass ich hier bin. Vielleicht denken sie, ich bin eine Plage. Viele Leute denken, Kinder sind eine Plage!“
„Dann sind viele Leute eben dumm“, sagte Natasha entschieden und knöpfte Freddie den Mantel zu.
„Kann sein. Aber wenn sie mich nun wirklich nicht mögen?“
„Und wenn du sie nicht magst?“
Auf die Idee war Freddie noch gar nicht gekommen. Während sie darüber nachdachte, wischte sie sich mit dem Handrücken über die Nase, bevor Natasha ein Taschentuch zücken konnte. „Sind sie nett?“
„Ich glaube schon. Aber das musst du selbst entscheiden, wenn du sie erst kennen gelernt hast. Okay?“
„Okay.“
„Ladys, vielleicht könntet ihr eure Konferenz vertagen.“ Spence hatte den Kofferraum entladen und stand schwer bepackt neben dem Auto. „Worum ging’s überhaupt?“ fragte er, als sie zu ihm auf den Bürgersteig kamen.
„Frauensachen“, antwortete Natasha und zwinkerte der kichernden Freddie zu.
„Großartig!“ Er betrat die abgenutzten Betonstufen und folgte Natasha. „Dieses Gepäck wiegt Zentner. Was hast du da drin? Steine?“
„Nur ein paar, außerdem noch einige wichtige Dinge.“ Sie drehte sich zu ihm um und küsste ihn gerade auf die Wange, als Nadia die Tür öffnete.
„Na also.“ Zufrieden kreuzte Nadia die Arme vor der Brust. „Ich habe Papa gesagt, dass ihr kommen würdet, bevor die Johnny-Carson-Show vorbei ist.“
„Mama.“ Natasha flog die letzten Stufen hinauf und ließ sich von Nadia umarmen. Der gewohnte Duft stieg ihr in die Nase. Talg und Muskat. Und ihre Mutter fühlte sich wie immer an. Stark und zupackend. Ihr Gesicht war genauso. Entschlossen und temperamentvoll und voller Falten, die die Sorgen, das Lachen und die Zeit hinterlassen hatten.
Nadia murmelte ein Kosewort und trat einen Schritt zurück, um Natasha auf die Wangen zu küssen. „Kommt herein. Unsere Gäste stehen in der Kälte.“
Natashas Vater kam in den Flur gestürmt, packte seine Tochter an den Hüften und hob sie in die Luft. Er war ein hoch gewachsener Mann, und inseinem Arbeitshemd steckten Arme, die in Jahren harter Arbeit auf Baustellen den Umfang eines Kranhakens bekommen hatten. Mit einem herzhaften Lachen küsste er sie.
„Keine Manieren“, sagte Nadia kopfschüttelnd, während sie die Tür schloss. „Yuri, Natasha hat Gäste mitgebracht.“
„Hallo.“ Yuri streckte eine schwielige Hand aus und schüttelte Spences kräftig. „Willkommen.“
„Das sind Spence und Freddie Kimball“, stellte Natasha die beiden vor und sah dabei, wie Freddie nach der Hand ihres Vaters griff. Sie schien verlegen und neugierig zugleich zu sein.
„Wir freuen uns, dass Sie mitgekommen sind.“ Weil es ihre Art war, begrüßte Nadia die beiden ebenfalls mit Küssen. „Ich nehme die Mäntel, und ihr setzt euch. Ihr seid bestimmt müde.“
„Vielen Dank für die Einladung“, begann Spence. Als er spürte, wie nervös Freddie war, nahm er sie auf den Arm und trug sie ins Wohnzimmer.
Es war klein, mit alten
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