Melodie des Südens
vielleicht ein Kind bekommen, noch bevor er zurückkehrte. Nur deshalb hatte er das Exil gewählt – nur deshalb war er so lange diesem Zuhause ferngeblieben.
Gabriel beugte sich vor und küsste seine Tante Josephine auf die Wange. So kompliziert die Familienverhältnisse waren – Schwarz und Weiß, Halbschwestern und Halbbrüder und so weiter –, hatte es doch nie einen Zweifel daran gegeben, dass seine Tante ihn liebte wie ihre eigenen Kinder. Es schmerzte ihn, die Freude über seine Heimkehr schwinden zu sehen.
»Mutter lässt grüßen«, sagte er. »Ich habe meinen Stiefvater kennengelernt, habe ihn am Klavier gehört und habe Nicolette singen gehört.«
»Erzähl«, fiel Ariane ein. »Was hat Nicolette gesungen? Was hatte sie an? Hat sie auch wieder das Lied mit dem unanständigen Text gesungen?«
»Ariane!«, unterbrach Musette die kleine Schwester und sagte mit einer Anmut, die ihrem jugendlichen Alter gar nicht entsprach: »Setz dich doch, Gabriel. Ich bin sicher, du hast uns viel über Paris zu erzählen.«
»Aber erst erzählst du von Nicolette«, insistierte Ariane.
Und Gabriel erzählte. Er erzählte, was sie gesungen hatte und wie sie ihr Publikum allein mit dem Heben einer Augenbraue zum Lachen brachte. Er erinnerte sich sogar daran, was für ein Kleid sie getragen hatte. Und die ganze Zeit saß Ariane hingerissen da, Musette und Tante Josephine stellten hartnäckige Fragen, und Simone saß schweigend ihm gegenüber und starrte ihn an. Er würde dieses Haus verlassen müssen, sobald es ihm die Höflichkeit erlaubte. Er hatte nicht die Kraft für eine Begegnung mit dieser Frau, deren Berührung ihn in Flammen setzte. Drei lange, einsame Jahre im Ausland, und alles vergeblich. Er sehnte sich nach ihr wie eh und je.
Während des Mittagessens amüsierte er die Damen mit seinen Geschichten über das Leben in Paris. Josie interessierte sich natürlich vor allem für die Plätze, an denen sie mit ihrem Mann Phanor gewesen war, zwei Jahre vor seinem Tod. Wie sah es in den Tuilerien aus und am Louvre? War das Bild der Mona Lisa immer noch im großen Saal ausgestellt?
Mehr als gesättigt von all den Lieblingsspeisen, die Tante Josie ihrer Köchin aufzutragen befohlen hatte – Taschenkrebs-Pie, geschmorte Okraschoten, allerlei Delikatessen, die nicht einmal Paris zu bieten hatte –, schob Gabriel seinen Stuhl ein Stück vom Tisch weg. »Bitte nicht!«, stöhnte er, als Tante Josie ihm noch ein Stück Pekankuchen anbot.
Sie saßen auf der vorderen Veranda und sahen den hoch beladenen Dampfern zu, die den Fluss durchpflügten. Wie viel Verkehr inzwischen auf dem Strom herrschte! Als er ein Junge gewesen war, hatten sie manchmal stundenlang am Ufer gesessen, ohne dass ein einziges Schiff vorbeikam. Mit Nicolette war er oft hinunter zum Anleger gerannt, um zuzusehen, wie der dicke schwarze Rauch aus dem Schornstein kam, und sie hatten immer gehofft, dass der Kapitän die Schiffssirene für sie tuten lassen würde.
Gabriel genoss seine Zigarre, sprach mit den Cousinen und lachte, wenn es ihm passend erschien. Aber die ganze Zeit waren sein Herz und seine Gedanken in wildem Aufruhr. Simone saß keine zwei Meter von ihm entfernt und klopfte mit dem Fuß auf den Boden. Ihr blassgelbes Kleid schloss sich eng um ihren Busen, und der sommerlich große Ausschnitt zeigte ihre taufrische Haut. Manchmal umschloss sie mit den Fingern das Holz ihrer Stuhllehne, manchmal trommelte sie auf das Holz. Als er diese Finger das letzte Mal geküsst hatte, hatten sie nach Jasmin geduftet.
Simones fester Blick bohrte sich in ihn, sobald er in ihre Richtung sah. Nur noch vorsichtig sah er zu ihr hinüber, aber die Hitze ihrer Blicke ließ ihm jedesmal das Blut ins Gesicht steigen.
Er musste fort. Schon möglich, dass er ein Feigling war, aber er wusste nicht, was er ihr sagen sollte. Als er den Stummel seiner Zigarre im Aschenbecher ausdrückte, zitterte seine Hand.
»Ich muss los«, sagte er und stand auf.
»Aber du kommst morgen Abend zum Essen, oder?«, fragte Tante Josie.
»Sicher. Und dann bringe ich die Figürchen mit, die ich in Paris für euch gekauft habe.«
»Oh, ich liebe Figürchen!«, rief Ariane. Sie hielt Gabriel ihre Wange zum Kuss hin und ging mit ihrer Mutter und Musette ins Haus.
So blieb er allein mit Simone auf der Veranda. Sie stand nahe genug bei ihm, er hätte einfach die Hand ausstrecken und nach ihr greifen können, aber er brachte genug Willenskraft auf, seine Arme nutzlos herabhängen zu
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