Melodie des Südens
lügen.« Alle Augen in der Hütte ruhten auf ihr.
»Joseph … du kannst dich darauf verlassen, ich verrate Mr McNaught nicht, dass fremde Leute hier in der Hütte sind.«
Er schüttelte den Kopf. »Wir brauchen einen Wagen für diese Leute. Bess kann nicht laufen, und dem Jungen geht es wirklich schlecht. Wahrscheinlich wird er morgen Fieber haben. Wir müssen dafür sorgen, dass sie weiterkommen, bevor man sie einfängt.«
»Einen Wagen? Aber dann brauchst du auch ein Pferd oder ein Maultier. Mr McNaught wird nicht …«
»Deshalb brauchen wir ja Sie, Miss Marianne«, erwiderte Pearl. »Wenn Sie Mr McNaught befehlen, Joseph den Wagen für einen Tag zu geben, dann können wir die Familie unten drin verstecken und Sachen daraufpacken. Und Joseph kann mit ihnen losfahren, bevor sie eingefangen werden.«
Marianne schluckte. Sie baten sie tatsächlich darum, aktiv mitzuhelfen, dass die Sklaven eines anderen Plantagenbesitzers entkommen konnten. Nicht einfach so zu tun, als wüsste sie von nichts, wie bei Luke, nicht einfach McNaught so beschäftigt zu halten, dass Luke eine Chance hatte, weiter wegzukommen, bevor seine Flucht auffiel.
Nein, es ging darum, eine Flucht zu planen und durchzuführen. Das war gesetzeswidrig, und das Gesetz hatte auch für die privilegierte Tochter eines wohlhabenden weißen Plantagenbesitzers Geltung. Was würde mit ihr und ihrer Familie geschehen, wenn sie dabei erwischt wurde, wie sie entflohenen Sklaven half? Sie konnte sich kaum vorstellen, wie furchtbar es werden könnte. Verhaftung? Eine Gerichtsverhandlung? Ächtung der ganzen Familie durch alle Freunde und Bekannten? Gefängnis?
»Joseph, ich kann doch nicht …« Niemand sprach, sie starrten sie einfach nur an. Selbst Joseph unternahm keinen aktiven Versuch, sie zu überreden.
»Wenn man mich erwischt …« Marianne stand mitten in der Hütte und rang die Hände. Sie sah dem Jungen in die Augen, der in einer Ecke saß, wo ihn das Kerzenlicht kaum noch erreichte, und sie ansah.
»Was hat dieser kleine Junge denn getan?«, flüsterte sie den schweigenden Gesichtern zu.
»Clem hat einen Eimer Sirup verschüttet, den er tragen musste«, sagte seine Mutter mit einer Stimme, die vor Wut und Angst um ihr Kind ganz heiser war.
Die Kerze flackerte, der Wind heulte im Kamin. Immer noch rührte sich niemand.
Marianne schloss die Augen, aber sie konnte die Blicke trotzdem spüren, die sie durchbohrten, tiefer in sie eindrangen, als sie selbst jemals geblickt hatte. Was sahen sie in ihr? Eine bequeme weiße Dame in einem feinen Kleid, mit Schuhen an den Füßen, mit Bändern im Haar? Eine Frau, die einen Sklaven nicht selbst misshandeln würde, aber seelenruhig daneben stand, wenn jemand anderer ein Kind auspeitschte, das Sirup verschüttet hatte?
Sahen sie ihre Feigheit?
Sie konnte die Hütte verlassen. Sie konnte durch das Pekanwäldchen zum Haus gehen, die Treppe zu ihrem Schlafzimmer hinaufgehen, dessen Wände mit rosa Brokat tapeziert waren, und die Tür hinter sich zumachen. Hannah würde ihr beim Ausziehen helfen, ihr die Stiefel aufschnüren und die Seidenstrümpfe ausziehen. Sie konnte sich auf ihr Federkissen legen und die Augen schließen. Auf die eine oder andere Weise würden diese Leute morgen verschwunden sein, und es wäre nicht ihr Problem. Möglicherweise würde sie nie mehr von ihnen hören, nie erfahren, ob sie gefangen worden waren, ob der Rücken des Jungen heilte oder von Neuem aufgerissen würde von der angespitzten Peitsche des Aufsehers.
»Das geht so nicht«, sagte sie schließlich. »Mr McNaught ist sehr misstrauisch, seit Luke weggelaufen ist. Ich fahre mit euch.«
Es war noch dunkel, als Joseph die Familie zu einem der Wagen in der Scheune brachte. Pearl und Evette waren ebenfalls dort; sie hatten ein Spinnrad aus der Weberei mitgebracht. So warteten sie auf Tageslicht, eine Decke über die Flüchtlinge gebreitet, mit Körben voller Flachs und Baumwolle und mit dem geschickt aufgestellten Spinnrad.
Im Haupthaus erklärte Marianne Charles, sie werde im Morgengrauen aufbrechen, um Martha Madison zu besuchen, die eine halbe Tagesreise entfernt flussaufwärts wohnte. Verglichen mit den Johnstons waren die Madisons kleine Bauern, aber Martha und sie waren schon seit ihrer frühen Kindheit Freundinnen. Sie würde den Wagen nehmen statt der Kutsche, denn Martha hatte bei einem kleinen Brand im Haus ihr Spinnrad eingebüßt, und Magnolias besaß mehr Spinnräder, als gebraucht wurden. Diese Geschichte
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