Melodie des Südens
mir noch eine von den Zigarren Ihres Vaters gönnen, bevor ich mich zum Schlafen zurückziehe.«
Seine Förmlichkeit war ihr eigentlich ganz recht gewesen. Wie hätte sie ihn sonst jemals verlassen können?
»Gute Nacht, Mr Chamard.« Sie war die große Treppe hinaufgestiegen und hatte seinen Blick in ihrem Rücken gespürt. Oben angekommen, war sie stehen geblieben und hatte zurückgeschaut.
»Gute Nacht«, hatte er gesagt.
Marianne hatte süß und selig geschlafen, und nun reckte sie sich und lächelte. Seine Küsse waren immer noch zu spüren. Freddie sprang auf ihr Bett, schnappte nach ihren Fingern und leckte daran. Sie fing ihn ab und schloss ihn in die Arme. Selbst Freddie mochte Yves.
Beim Anziehen ließ sie mehr Sorgfalt walten, als sie es seit Monaten getan hatte. Vor dem Spiegel hielt sie sich die Bernstein-Ohrringe an und drehte den Kopf, um die Wirkung zu sehen. Nein, doch lieber die Perlen. Angetan mit ihrem blauen Lieblingskleid, ging sie ohne Umweg ins Frühstückszimmer, um Yves zu sagen, dass sie allen ihren Bekannten schreiben würde, sie sollten nach Gabriel Ausschau halten und auf Gerüchte achten, in denen es um einen hellhäutigen Sklaven mit allzu gepflegten Händen ging.
Aber im Speisezimmer war niemand zu sehen. Auch nicht im Salon oder in der Bibliothek. Sie suchte auf der hinteren Veranda. Wo konnte er sein?
Charles war in seiner Küche und putzte Silber.
»Hast du unseren Gast heute früh schon gesehen?«, fragte sie ihn.
»Ja, Madam, ich habe ihn gesehen.« Er hauchte auf einen Krug und polierte weiter.
»Und wo ist er?«
Charles sah sie an, und mit seinen dreiundsechzig Jahren durchschaute er sie sofort. Sie errötete, hielt aber den Kopf oben.
»Er ist weg. Hat in der Küche schnell etwas gefrühstückt, und dann war er auf und davon.«
Marianne senkte den Blick. Natürlich, er musste sich beeilen, um Gabriel zu verfolgen. Aber er hatte ihr nicht gesagt, dass er so früh abreisen würde, ohne sich zu verabschieden.
»Er hat Ihnen etwas hinterlassen.«
Ihr Herz schlug schneller, und sie sah Charles fragend an.
»Was?«
»Ich habe es ins Zimmer gestellt.«
Sie folgte ihm ins Speisezimmer zu einem Beistelltischchen. Charles nahm eine Vase mit einem Strauß wilder Blumen in die Hand. Queen-Anne-Spitze, Gänseblümchen und Butterblumen. »Hier, für Sie«, sagte Charles und vergaß für einen Moment seine gepflegte Redeweise.
Marianne konnte das breite Lächeln nicht unterdrücken.
Charles beugte sich ein wenig vor und sagte: »Also, ich mag diesen Chamard.«
Marianne stellte den Blumenstrauß auf den Esstisch neben ihren Platz, während sie frühstückte. Dann nahm sie die Vase mit in ihr Zimmer, wo sie die nächsten drei Stunden an ihrem Schreibtisch verbrachte und Briefe an jeden schrieb, der von Gabriels Verschwinden wissen musste. Einige der Empfänger würden wohl nur wenig Mitleid mit einem Farbigen empfinden, der in diese schreckliche Lage gekommen war, aber viele eben doch. Sie würden sich an ihrem Flussabschnitt erkundigen, und vielleicht hatte irgendjemand etwas gehört, irgendetwas, was ihnen einen Hinweis auf Gabriels Verbleib geben konnte.
Mit tintenfleckigen Fingern rief Marianne nach Charles, damit er die Briefe zum Anleger mitnahm und eigenhändig dem Postboot übergab. Dann ging sie im Zimmer hin und her, während Freddie sie aus seinen großen Welpenaugen aufmerksam beobachtete.
»Komm, wir gehen nach draußen«, sage sie zu ihm, und er wedelte träge mit dem Schwanz. »Los, du Faulpelz.«
Sie gingen im Garten spazieren, bis Marianne, ohne groß auf ihre Reifröcke zu achten, sich auf eine Holzbank zwischen den Kamelien fallen ließ. Es war die Bank, in deren Lehne der Name ihrer Mutter eingebrannt war, die Bank, auf der Yves so kühn nach ihrer Hand gegriffen und sie gerügt hatte, weil sie ihre Meinung frei heraus gesagt hatte.
Aber was denkt er selbst?, dachte sie. Sie wollte nicht glauben, dass er so dickfellig mit dem Thema Sklaverei umging wie die meisten anderen Männer. Sie würde keinen Mann lieben können, der …
Lächerlich. Ein paar Küsse, mehr nicht.
15
Wie lang die Tage waren! Marianne machte sich Sorgen um Gabriel. Sie vermisste Adam, und sie vermisste Yves Chamard. Zu allen möglichen Gelegenheiten tagsüber und in den vielen langen Stunden, die sie in den warmen Nächten auf den Schlaf wartete, erinnerte sie sich an das Gefühl seiner Lippen auf ihrem Mund. Es waren süße Küsse gewesen, aber immer mit einer Andeutung auf
Weitere Kostenlose Bücher