Melodie des Südens
halten, das direkt an dieser Straße steht. Es ist weiß und hat zwei Fenster zur Straße und vier Magnolien an der Seite. Auf dem Pferd hat es für den Hirten sicher nicht so lange gedauert, und unsere Maultiere sind alt und langsam.«
Marianne hoffte, sie würden ihre Fracht bis zum Einbruch der Dunkelheit abgeliefert haben und bei Martha eintreffen. Sie hatte nicht damit gerechnet, die Nacht auf dem Wagen zu verbringen. Gab es in dieser Gegend Räuberbanden? Straßenräuber, die ihnen eins über den Schädel geben und sie ausrauben würden? Sie fühlte sich verletzlich und fürchtete sich ein wenig bei dem Gedanken. Wenn doch Yves jetzt bei ihnen gewesen wäre!
Bei dem Gedanken zuckte sie zusammen. Yves Chamard? Sie brauchte ihn nicht. Nur weil er diese Aura von Fähigkeit und Selbstvertrauen hatte, oder was immer es war? Eher wohl Arroganz. Sie brauchte einen Beschützer. Sie war ganz gut in der Lage, auf sich selbst und die anderen aufzupassen, und sie hatte die Flinte bei sich. Und ihre Zunge, schließlich war sie kein schüchternes Veilchen im Moose.
Und wenn sie einen Beschützer brauchte, würde sie sich für Marcel entscheiden. Auf jeden Fall.
Während des restlichen müden, schwülheißen Nachmittags erinnerte sie sich systematisch an all die Dinge, die sie an Yves Chamard nicht leiden konnte. Seinen ironischen Blick, natürlich. Die rastlose Energie. Marcel setzte sich mit Anmut und lässiger Eleganz auf ein Sofa, als ob er es unendlich liebte, auf Brokat auszuruhen. Yves saß dort, saß auch einigermaßen ruhig, war aber ständig sprungbereit.
Er hatte etwas Männliches an sich, und natürlich spürte sie das. Und er küsste gut. Sehr gut. Ehrlich gestanden, waren seine Küsse fantastisch. Ihre Handfläche erinnerte sich von selbst an seine Berührung, sein Streicheln. Zweimal hatte er es gewagt, ihre Hand zu nehmen. Und wie konnte es sein, dass eine so einfach Sache ihr ganzes Dasein heller machte? Sie sah seinen Mund vor sich, die kleine Narbe an der Lippe, wie er immer näher kam, bevor er sie das erste Mal küsste. Sie schloss die Augen.
Ja, sie musste es zugeben, er war aufregend. Aber er war eben auch herablassend und unsensibel. Er war einfach nicht der Richtige.
Ein paar Reiter holten sie ein. Marianne drehte sich um, als sie den Hufschlag auf der harten Erde hörte. Es waren vier Männer, alle mit Gewehren und Pistolen bewaffnet. Sie hatten alle gute Pferde, obwohl sie selbst eher unrasiert und schmutzig aussahen.
Als sie an dem Wagen vorbeiritten, tippten sie sich an die Hüte und wünschten Marianne einen guten Tag.
Sie benahmen sich nicht beleidigend oder auffällig, und doch hatte Marianne ein ungutes Gefühl. Was für Männer waren das, die mit Handschellen unterwegs waren? Sie hatte gesehen, wie die metallenen Gerätschaften aus einer der Satteltaschen baumelten. Mit einem Seitenblick auf Joseph und seine fest zusammengepressten Lippen stellte sie fest, dass er es auch gesehen hatte. Sie griff nach der Schrotflinte zu ihren Füßen und lud sie. Dann legte sie sich das Gewehr auf den Schoß.
Es war fast dunkel, und immer noch war kein Haus mit vier Magnolien zu sehen. Überhaupt gab es an dieser Straße nur wenige Häuser; sie waren vielleicht an einem halben Dutzend Farmerhäusern aus grob behauenen Brettern vorbeigefahren, manche nicht viel mehr als Hütten. Hier im Hinterland gab es keine Plantagen, hier waren die Leute arm und taten ihre Arbeit selbst.
Marianne beschloss, im Wald zu übernachten. Die Mücken würden sie bei lebendigem Leibe auffressen, und die Bären und Raubkatzen … nun, es war müßig, darüber nachzudenken.
Sie waren sechs Personen auf diesem Wagen, und ein Raubtier müsste wohl tollwütig sein, um sich an sie heranzuwagen. Andererseits war es August, da grassierte die Tollwut am meisten. Nein, sie verwarf den Gedanken. Sie musste sich wohl eher um menschliche Raubtiere Sorgen machen, so wie die vier Reiter, die sie überholt hatten.
Als ihnen vielleicht noch zwanzig Minuten bei Licht blieben, kam ein weiteres Farmhaus in Sicht. Ein weiß gestrichenes Haus mit zwei Fenstern zur Straße und vier Magnolienbäumen daneben.
»Ich vermute, das ist es«, sagte Joseph ruhig. Er wollte die Maultiere gerade auf das Haus zu lenken, als Marianne ihn am Arm packte.
»Fahr weiter«, zischte sie.
Vier Pferde, noch mit Sätteln und Satteltaschen beladen, tranken aus dem Trog vor dem Haus. Es mussten die Pferde der vier Männer sein, die an ihnen vorbeigeritten
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