Melville
größer. Er weint?
„Liam?”,
ich zögere kurz, doch setze mich dann neben ihn.
„Liam,
was hast du denn?”, das Blut seiner Tränen hat sich bereits als
kleine Pfütze unter ihm auf dem Parkett gesammelt. Nur ganz leise
höre ich wie er schluchzend sagt
„Ich
kann das nicht. Bitte, tun Sie mir das nicht an.“. Ich kämpfe
innerlich mit mir, soll ich ihn trösten? Ich bleibe ganz ruhig, sage
nichts.
„Sie
sind mein Vorbild, mein Erzeuger. Doch ich kann nicht... es war so
grausam... dabei habe ich gedacht, Sie wollen ihn nur verführen,
vielleicht ein wenig grob zu ihm sein.”, seine Stimme wird wieder
fester, er wischt sich die letzten Tränen mit seinem Hemdsärmel vom
Gesicht, rot färbt es den Stoff. Und hätte ich eben nicht besonders
ausgiebig gespeist, wäre ich sicher in gewisser Versuchung und
müsste widerstehen. Ich starre vor mir auf den kleinen Tisch,
konzentriere mich krampfhaft auf die Titelseiten der
Finanznachrichten die dort liegen, damit ich ihn nicht ansehen muss.
Ich spüre wie sich sein Blick auf mich legt.
„Herr
Lancaster?“. Ein kurzer unangenehmer Moment des Schweigens, doch
ich antworte schließlich
„Es
tut mir Leid für dich, wenn es dich so mitgenommen hat, anscheinend
habe ich vergessen, dass deine Nähe zu menschlichem Empfinden und
Mitleid mehr ausgeprägt ist als bei mir. Und natürlich gibt es dann
auch nichts was ich sagen könnte, um es für dich besser zu machen,
doch...“.
„Herr
Lancaster, ich...“.
„Hör
mich an, Liam. Du sollst wissen, dass ich schon immer so war. Ich bin
nicht erst seit meiner Vampirwerdung so. Es ist nur kälter geworden,
rücksichtsloser und mein Drang es zu tun stärker. Doch es war schon
immer da. Ich bin ein Sadist, Liam, doch kein verrücktes Monster...
doch, vielleicht bin ich ein verrücktes Monster in deinen Augen. Ein
Mörder...”, ich atme kurz aus.
„Ja,
ein Mörder bin ich. Doch für mich sind sie nicht mehr
Meinesgleichen. Sie dienen der Unterhaltung, als Mensch habe ich sie
nie getötet.“. Ich denke kurz an die Frau, die ich als Ghul fast
getötet hätte.
„Doch
nun sind sie für mich Beute und ich bin ein Raubtier. Ich habe dir
schon erklärt, wie es bei mir mit der Menschlichkeit steht und was
eben passiert ist, ist nur eine Konsequenz aus meinen Ansichten. Du
wirst es nicht wieder mit ansehen müssen, doch wenn du weiterhin
mein Küken sein willst, musst du es akzeptieren. Alle paar Monate
wird es passieren, soviel ist sicher. Ich brauche diese kleinen
Momente, damit ich in der restlichen Zeit sein kann, was ich bin.“.
Ich senke den Blick zu Boden, reibe meine Hände gedankenverloren.
„Melville.“.
Das ist alles was er sagt, ich blicke zu ihm. Er sieht immer noch
traurig aus, sicher wird er die Bilder nicht wieder vergessen. Er
nimmt mich in den Arm, ich bin überrascht. Ich hebe langsam meine
Arme und lege sie auch um ihn. Es fühlt sich an, wie die Umarmung
eines Liebenden, der gerade erfahren hat, dass man an einer schweren
Krankheit leidet. Es ist unerträglich. Ich löse mich aus der
Umarmung wieder schnell und stehe auf.
„Es
tut mir Leid, Liam, aber ich kann das nicht. Nicht mehr.“.
„Ich
verstehe, Herr Lancaster, entschuldigen Sie bitte.“.
„Es
ist schon spät, wir sollten uns zur Ruhe legen. Wir sehen uns morgen
Abend, Liam.“. Ich mache bereits die ersten Schritte Richtung
Treppenaufgang.
„Schlafen
Sie gut...“, sagt er leise. Ich lasse ihn zurück und gehe in meine
Etage. Es sind eigentlich noch fast zwei Stunden bis der traumlose
Schlaf uns überrennt, doch ich habe es nicht mehr ausgehalten. Ich
lege mich in mein Bett und betrachte nichtsdenkend die Zimmerdecke
und warte auf die bleierne Müdigkeit. Sie ereilt mich heute Nacht
früher als gewöhnlich. Und als ich es bemerke und meine Sinne fast
entschwinden, frage ich mich, wie weit ich meine Moral von damals
wirklich zurückgelassen habe.
Als
ich am nächsten Abend auch noch später erwache, bin ich mir gewiss,
der Wechsel hat sich noch nicht gänzlich vollzogen. Ich gehe in das
Bad, mein Gesicht wirkt fahl, die Augen etwas tiefer in den Höhlen,
mein Haar strähnig. Was habe ich falsch gemacht? Bin ich noch nicht
weit genug gegangen? Oder hat es am Ende was mit... Benedict
...
Nein,
das ist albern. Sicher bin ich nur noch nicht komplett über meine
menschliche Seite hinweg. Das kommt bald. Aber es wird sich in meiner
Umgebung auch niemand finden lassen, der ebenfalls meinen Ansichten
folgt und den ich um Rat fragen
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