Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
stürmen aus der Schiebetür, schlittern über den polierten Boden und rasen die Rolltreppe runter, raus, nur raus aus den City-Arkaden und weiter durch die schmalen Straßen der Innenstadt, bis wir vor Seitenstechen nicht mehr können. Aber das macht nichts, denn als wir uns umsehen, merken wir, dass wir längst alle Verfolger abgeschüttelt haben.
»Der alte Sack hatte keine Chance!«, keucht Ellie. »Hast du gesehen, wie der geguckt hat, Janina? Mann, war das geil, geil, geil! Lass uns das noch mal machen, ja?« Ellie umarmt mich lachend und außer Atem.
Aber ich bin noch immer angespannt, habe das Gefühl, dass wir noch nicht in Sicherheit sind, dass wir irgendwas Wichtiges vergessen haben … Ich taste nach meinem Portmonee, damit könnten sie die Personalien … und dann fällt es mir ein. »Wo ist Ruben?«, frage ich.
Mein Bruder ist weg.
Langsam laufe ich den Weg zurück Richtung City-Arkaden, während Ellie auf mich einredet: »Der Kerl hat ihn bestimmt gar nicht beachtet, der hatte doch nur uns auf dem Kieker.«
Ich hoffe die ganze Zeit, dass Ruben uns entgegenkommt. Aber er kommt nicht.
»Bestimmt steht er vor den Arkaden und wartet auf uns«, versucht Ellie mich zu beruhigen. Aber da steht Ruben nicht. Meine Hände sind feuchtkalt, ich wische sie an meiner Hose ab. Ich fühle die gestohlene Röhrenjeans unter dem Stoff wie eine zweite Haut.
»Selbst wenn sie den Zwerg erwischt haben. Er ist doch erst fünf.«
»Sechs«, verbessere ich automatisch, während ich auf die spiegelnde Fassade der City-Arkaden starre. Ich starre durch all das Glas und all den polierten Marmor, bis in das Büro des Kaufhausdetektivs, in dem Ruben jetzt wahrscheinlich sitzt und mit den Beinen baumelt, weil der Stuhl zu groß für ihn ist. Er wird die Lippen zusammenpressen und mit dem Zeigefinger über den Einband seines Märchenbuchs streichen, so wie er es neulich gemacht hat, als Papa mal wieder nicht vom Sofa hochkam, um ihn von der Schule abzuholen.
»Okay, dann ist er eben sechs. Die können den gar nicht bestrafen. Du wirst sehen, die lassen ihn einfach wieder laufen.« Ellie zieht mich am Arm, will mich zurückhalten. »Lass es, Janina. Lass es! Du wirst so was von Ärger kriegen!« Ein paar Passanten gucken schon zu uns rüber.
Ich denke an Regel Nummer eins.
Ich denke an meine Eltern, die diese Regel bestens beherrschen. Wenn Papa aufs Amt muss, verlässt er in Anzug und mit Aktenkoffer das Haus, so wie früher, als er noch mit dem Auto zur Arbeit fuhr. Nur dass unser Auto jetzt verkauft ist.
Und Mama? Tut so, als ob es für sie völlig in Ordnung wäre, bis um zehn Uhr abends putzen zu gehen. Aber neulich hat sie geweint, als ich in die Küche kam. Sie hat gesagt, das käme von den Zwiebeln, dabei war weit und breit keine Zwiebel in Sicht, nur die Zucchini, die Kotzgurke, die sie in den Kühlschrank geräumt hat.
Und ich? Ich verstecke die geklauten Klamotten ganz unten in meinem Schrank, damit meine Eltern nichts merken. Tue so, als hätte ich massig Taschengeld und würde aus Spaß klauen. Tue so, als ob alles ganz normal wäre.
Nur Ruben tut nicht so. Der will, dass ihm jemand bescheuerte Märchen vorliest. Und ich hab’s ihm versprochen.
Ich starre auf die glänzende Fassade der City-Arkaden. Im Schaufenster spiegelt sich mein Gesicht.
ZOMBIE
Meine Mutter sagt: einfach eingeschlafen. Für immer eingeschlafen. Onkel Peter sagt: Es war schon eine Art Erlösung am Schluss.
Ich sage: abgekratzt. Ich sage: den Löffel abgegeben. Ich sage: guckt sich die Radieschen von unten an. Ich sage: verreckt. Ich sage: gestorben. Ich sage: tot, mausetot.
Ich könnte noch ewig so weitermachen, es gibt so viele Wörter dafür. Ich habe die oft benutzt. Aber irgendwie passen die nicht zu meinem Opa, genauso wenig wie das, was Mama und Onkel Peter sagen.
Mama heult seit zwei Tagen. Ab und zu ruft jemand an oder eine Nachbarin kommt vorbei, dann geht es in eine neue Runde, das Trauern, das Trösten. Onkel Peter heult nicht, der hängt am Telefon und organisiert. Seine tiefe Stimme dringt durch die Wände und nimmt alles in Beschlag: »Auf dem Band soll stehen ‚In Liebe – Peter und Carola mit Hendrik‘. Haben Sie das? Ja, Carola mit C.« Der Mann geht mir auf den Sack.
Noch dazu übernachtet er in meinem Computerzimmer, das leider zufällig auch das Gästezimmer ist. Auf dem Sofa, auf dem ich manchmal rumliege und fernsehe, thront jetzt Onkel Peters Koffer. Er ist aufgeklappt, sodass man die ganzen schwarzen
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