Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
nebenan lag ein anderer, der sah aus, als wäre er schon tot. Er selbst saß im Rollstuhl in dem kleinen Zimmer.
Meine Mutter begrüßte ihn, erzählte ihm, dass sie ihm ein neues Nachthemd mitgebracht habe, schön, Vati, oder? Dann stupste sie mich an und ich ging zu ihm hin. Er sah viel kleiner aus als in meiner Erinnerung. »Hallo, Opa. Ich bin’s, Hendrik.«
Auf Mamas auffordernden Blick hin beugte ich mich zu ihm runter und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Dabei spürte ich seine kratzigen Bartstoppeln und die welke Haut, genau wie ich sie jetzt spüre. Stocksteif liege ich in meinem Bett und etwas beugt sich über mich. Ich halte den Atem an, damit ich nicht anfange zu schreien.
Damals im Heim hatte Opa mich angesehen wie einen Fremden. Ich musste ihm eines der gerahmten Fotos zeigen, die auf dem Nachttisch standen. Auf dem Foto waren er und ich und Frieda. »Weißt du noch, wie wir zusammen rausgefahren sind?«, fragte ich. Einen winzigen Moment blitzte so etwas wie Erkennen in seinem trüben, verschleierten Blick auf.
Dann verzog sich sein eingefallenes Gesicht, sein Totenkopfgesicht, und er begann zu schreien. Ich spüre das Echo dieses Schreies jetzt in meiner Brust, spüre, wie der Schrei wächst und wächst, bis er zu groß ist für mich und aus meinem Mund hervorbricht.
»Was ist, Hendrik?«, fragt eine Stimme. Ich öffne die Augen. Die Deckenstrahler sind an. Mein Zimmer ist hell erleuchtet und sieht aus wie immer. Niemand da, bis auf meinen Onkel, der in der Tür steht und erschrocken aussieht. »Meine Güte, Hendrik, alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung«, antworte ich. »Nur ein Albtraum.«
Damals brauchten meine Mutter und eine herbeigeeilte Pflegeschwester fast zehn Minuten, um Opa wieder zu beruhigen. Sie erklärten mir hinterher, es sei nicht meine Schuld gewesen – die Demenz, sagten sie, als würde das alles erklären. Das war das letzte Mal, dass ich Opa gesehen habe. Meine Mutter hat danach immer wieder versucht, mich zu überreden mitzukommen, wenn sie ihn sonntags besuchen ging. Aber ich weigerte mich. Meistens kam Piet dann rüber und wir spielten »Zombie Planet«. Dann sagte ich mir, dass der Mann im Heim nicht mehr mein Opa war. Der war ein lebender Toter, ein Zombie.
Ich liege in meinem hell erleuchteten Zimmer und versuche ruhig zu bleiben. Logisch zu denken. Was würde ich tun, wenn das hier ein besonders schweres Computerspiel wäre?
In meinem Kopf höre ich die Stimme von meinem Kumpel Piet fragen: Was für Waffen hast du?
Es gibt verschiedene Wege, Zombies loszuwerden: eine Salve mit dem MG, Kopf abschlagen, verbrennen. Ich hab das schon oft gemacht. Am Computer. Aber wo soll ich hier bitte ein MG herkriegen? Außerdem ist ein Zombie, mit dem man verwandt ist, irgendwie etwas anderes, oder?
Nein, wäre das hier ein Computerspiel, dann wäre es garantiert so ein altmodisches Adventure, wo man statt eines MG seinen Verstand benutzen muss. Also keine Waffen. Stattdessen muss es Hinweise geben. Irgendwelche Gegenstände, die mir weiterhelfen können.
Das Boot! Das Wichtigste in Opas Leben war die Frieda. Die Lösung könnte etwas mit Booten zu tun haben …
Also denke ich über Boote nach und darüber, wie ich meinen ganz persönlichen Zombie ins Jenseits befördern könnte. Auf einmal steigt eine Erinnerung in mir auf.
Ich glaube, ich habe mal so was in Geschie gehört … Es ging um die Römer oder nein, die Griechen, die hatten doch so krasse Legenden für alles, die alten Griechen. Jedenfalls haben sie an die Unterwelt geglaubt, wo die ganzen Toten hinkommen. Aber um da hinzugelangen, mussten die Toten erst mit einem Boot über ein großes Gewässer geschippert werden.
Das ist die Lösung, ich bin mir ganz sicher. Ich muss den Zombie rüberbringen, ins Totenreich. Aber wie soll ich meinen toten Opa auf ein Boot kriegen, bitte?
»Ich will mit«, sage ich am nächsten Morgen zu Onkel Peter. »Ich will mit zur Leichenschau oder wie man das nennt.«
Bestimmt hat er meiner Mutter von meinem Albtraum letzte Nacht erzählt. Sie ist von der Idee nicht gerade begeistert: »Schatz, vielleicht ist es besser, wenn du Opa so in Erinnerung behältst, wie er war, als er noch lebendig und gesund war.« Mama beugt sich über das Spülbecken, um einen Topf abzuschrubben. Dabei ist der schon sauber.
»Aber ich muss ihn noch mal sehen, bevor er verbrannt wird. Es ist wichtig!«
Mama und Onkel Peter tauschen einen langen Blick über dem Spülbecken. Mein Onkel sagt:
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