Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
nach Hause kommt. Überstunden sagt er, aber ich weiß … ich weiß, dass er eine Neue hat.« Sie schwankt und kurz sieht es so aus, als würde sie umkippen. Stattdessen schlingt sie Ronny die Arme um den Hals. Er will zurückweichen, aber Mama klammert sich an ihn.
»Findest du mich schön, Ronny?«, fragt sie. »Sie ist natürlich jünger, alles an ihr ist jünger und schöner. Da schmeißt man so was wie mich weg, da schmeißt man mich weg …« Jetzt laufen ihr die Tränen über das Gesicht. Ronny versichert ihr, dass sie eine wunderschöne Frau ist und dass nur ein Dummkopf das nicht erkennt. Dann legt er sich ihren Arm um die Schulter und ich helfe ihm, sie in den zweiten Stock zu schleppen, wo unser Zimmer ist. Dort legen wir sie aufs Bett.
Ronny wischt sich über die Stirn, so hat er sich den Ausgang des Abends bestimmt nicht vorgestellt, fast tut er mir ein bisschen leid. Aber nur fast. Es sieht so aus, als wollte er noch was zu mir sagen, aber dann murmelt er nur »Gute Nacht« und verschwindet.
Ich ziehe Mama die hochhackigen Schuhe aus. »Will’s nich wieder tun«, lallt sie und greift nach meiner Hand: »Tut mir leid, tut mir so leid, Finchen. Hast du mich noch lieb? Hast du deine alte Mutter noch lieb?«
Zuerst bin ich so wütend auf sie, dass ich nicht antworten will. Aber schließlich sage ich: »Ja. Weißt du doch«, und gebe ihr einen Kuss, damit sie einschlafen kann. Ihr Haar riecht nach Bar und Mandelshampoo und einem Rest Meersalz. Wir liegen nebeneinander auf dem Doppelbett und atmen ins Dunkel.
Am nächsten Morgen geht Mama nicht zum Frühstück. Aber ich gehe und hinterher laufe ich runter zum Strand. Lochstein-Sarah ist schon da und wartet auf mich.
Wir spazieren am Wasser entlang und suchen nach Steinen. Wenn sie nass sind, glänzen sie in wunderschönen Farben, aber trocken sehen sie unscheinbar aus. Zwischen den Steinen liegen tote Marienkäfer. »Du hast mir immer noch nicht verraten, warum du die Viecher rettest«, sagt Sarah plötzlich. »Also, warum?«
»Weil sie mir leidtun«, murmele ich, da das die einfachste Erklärung ist: »Die können doch nichts dafür.«
»Aber du doch auch nicht«, entgegnet Sarah. »Du kannst sie nicht alle retten, das ist unmöglich.«
Ich zucke die Schultern und bücke mich, um einen Stein aufzuheben. Wir begutachteten ihn gemeinsam. »Der ist noch nicht fertig. Guck, das Loch ist noch nicht durch. Schmeiß ihn wieder rein«, sagt Sarah.
Ich schleudere den Stein raus ins Meer, es klatscht prächtig und Sarah brüllt: »Wir kommen dich in ein paar Millionen Jahren holen!« Dann dreht sie sich zu mir um und lächelt. »Willst du sehen, was mit den fertigen Lochsteinen passiert?«
Sarah führt mich zu dem Ferienhaus, in dem ihre Familie wohnt. »Wir kommen schon seit fünf Jahren hierher. Die Steine sind alle von uns.« An den Dachsparren hängen lauter Schnüre mit aufgefädelten Lochsteinen. »Na, wie findest du es?«
Es sieht aus, als würden die Steine im Wind tanzen.
Dann gehen wir ins Haus und ich lerne Sarahs Eltern und ihren Bruder kennen. »Ihr Haus ist sehr schön«, sage ich und betrachte die kleinen Schiffe auf den Fensterborden. Bestimmt haben sie die zusammen gebaut.
»Willst du zum Essen bleiben?«, fragt Sarahs Vater. »Meine Frau macht gerade Pfannkuchen. Wenn Sarah sich ein bisschen zurückhält, bleiben vielleicht noch ein paar für uns übrig.« Er lacht, als seine Tochter ihn gegen den Arm boxt. Sarah versucht wütend zu gucken, aber dann lacht sie auch. Ich sehe den beiden zu und denke an meinen eigenen Vater, und einen Moment fühle ich ein Loch mitten in meinem Bauch.
Aber dann gibt es Pfannkuchen mit Blaubeermarmelade und Zimtzucker. Als ich Sarahs Mutter sage, dass das die leckersten Pfannkuchen sind, die ich je gegessen habe, strahlt sie übers ganze Gesicht. »Ich bin froh, dass Sarah hier so eine nette Freundin gefunden hat. Du bist immer herzlich eingeladen, noch mehr Pfannkuchen den Garaus zu machen!« Sie hat noch mehr Sommersprossen als ihre Tochter. Kein Wunder, dass Sarah keine Marienkäfer rettet. Diese Familie hat schon mehr als genug Glückspunkte.
Später gehen wir zurück an den Strand. Ronny ist nicht zu sehen, der traut sich wohl nach gestern Abend nicht mehr in die Nähe meiner Mutter. Aber Mama liegt auf ihrem Liegestuhl. Diesmal hat sie ihr Bikini-Oberteil angelassen. Als sie mich sieht, hebt sie die Hand und schenkt mir ein kleines, unsicheres Lächeln. Als ich zurückwinke, wird das Lächeln
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