Melvin, mein Hund und die russischen Gurken
größer.
»Das ist deine Mutter?«, fragt Sarah. »Sie sieht sehr nett aus.« Da werde ich plötzlich wütend, so wütend, dass ich noch mal einen Stein aufheben und ihn so weit ins Meer schleudern muss, wie ich nur kann. Nur damit ich nicht meine nette Mutter damit treffe.
»Wenn du wüsstest!«, sage ich zu Sarah. Plötzlich spüre ich Tränen in den Augenwinkeln, da ist ein ganzes Meer in mir drin. Ich will nicht, dass Sarah es sieht. Deshalb lasse ich sie einfach stehen und laufe den Strand entlang. Ich laufe, bis ich nicht mehr kann, bis das Meer in mir überläuft. Da setze ich mich einfach in den Sand, zwischen die ganzen toten Käfer, und lasse mich wegspülen.
Nach einer Weile merke ich, dass sich jemand neben mich setzt. Wir sitzen schweigend da, während die Wellen unsere Füße streicheln.
»Guck mal, ich hab dir was mitgebracht«, sagt Sarah schließlich und zeigt mir ihre Hand, auf der ein nasser und ziemlich lädierter Käfer sitzt. »Ein Fine-Käfer.«
Sarah lässt ihn von ihrer Hand auf meine krabbeln.
Da hockt er auf meinem Finger wie eine kleine, erschöpfte Fee.
Wir beobachten gemeinsam, wie er langsam die Flügeldecken lüpft, schwarz gepunktete Röcke, um seine knittrigen Flügel zu trocknen. Es sieht aus, als würde er Sonnenlicht in seinen kleinen Körper pumpen.
Und als er genug Sonne und Kraft getankt hat, breitet der Käfer die Flügel aus und fliegt los. Er fliegt in die Dünen, wird kleiner und kleiner und dann verschwindet er im Blau.
MELVIN, MEIN HUND UND DIE RUSSISCHEN GURKEN
Kurz bevor es losgeht, kann ich es schmecken. Ganz hinten am Gaumen. Als Kind habe ich manchmal eine Kupfermünze in den Mund gesteckt und daran rumgelutscht. Die harten, kalten Kanten der Münze an meiner Zunge. Genauso fühlt es sich heute an, genauso schmeckt es, und ich weiß: Gleich kriegt jemand eins in die Fresse.
Ich bin mit Melvin unterwegs. Wenn du wissen willst, wie lange ich Melvin schon kenne – seit immer. In der Grundschule waren wir beste Freunde. Wir hatten viele gemeinsame Interessen: die Mädchen mit Kügelchen aus Papier und Spucke beschießen, Muskeln bekommen, Dokus über wilde Tiere schauen. Und vor allem: unsere Eltern davon überzeugen, dass Kinder mit Hunden aufwachsen sollten.
Daran änderte sich auch nichts, als wir nach der Vierten auf verschiedene Schulen kamen. Ich aufs Gymnasium, Melvin auf die Real- und später auf die Hauptschule. Ich fand neue Freunde. Keine Ahnung, was Melvin fand, er hat noch nie besonders viel geredet. Auch über das, was bei ihm zu Hause abging, weiß ich wenig. Aber Melvin hatte ziemlich Stress mit seinem Alten. So viel Stress, dass er zu einer Pflegefamilie kam. Muss nicht gerade lustig für ihn gewesen sein.
Trotzdem war Melvin immer für mich da. Als es den Riesenstreit mit meinen Eltern gab, weil ich Iro adoptiert hatte, ohne zu fragen. Als es den Riesenstreit zwischen meinen Eltern gab und meine Mutter auszog. Sogar als ich anfing, meine Haare grün zu färben.
Melvin war da, und einmal die Woche trafen wir uns zum Trainieren. Wir liefen mehrere Kilometer, sprinteten die Treppen beim alten Eisenbahnwerk rauf und runter und stemmten Hanteln. Nicht, dass das irgendeinen sichtbaren Effekt gehabt hätte. Bei mir nicht und bei Melvin erst recht nicht. Obwohl er anfing, jeden Tag in die Muckibude zu gehen, ist er klein und mager geblieben wie ein halb verhungerter Streuner. Und er ist mein Freund geblieben. Nur damit du kapierst, was abgeht und warum es so abgeht, wie es abgeht.
Wir sind gerade die Treppen beim alten Eisenbahnwerk fünfmal rauf- und runtergesprintet. Melvin macht noch ’ne Runde, der hat echt zu viel Energie. Iro und ich stehen unten an der Treppe, warten auf ihn und hecheln vor Anstrengung.
Iro heißt eigentlich Irokese. Falls du dich gerade fragst, ob das eine Hunderasse ist, die du noch nicht kennst, so wie Pekinese: nein. Iro heißt nicht so, weil sie ein Irokese ist, sondern weil sie einen hat. So einen witzigen Wirbel zwischen den Schlappohren. Als ich meine Haare noch grün färbte, färbte ich Iros immer mit. Wir sind ein klasse Team.
Plötzlich fängt Iro laut an zu bellen und wetzt los. Ich rufe ihren Namen und biege um die Ecke. Da sehe ich den Grund für Iros Aufregung: Vor dem alten Eisenbahnwerk stehen ein paar Typen und rauchen. Sie sind zu fünft, vier Jungs, ein Mädel, und sie stinken nach Ärger, wenn du verstehst, was ich meine. Schnell nehme ich Iro an die Leine und will sie in eine andere Richtung
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