Memed mein Falke
Sonne brannte unbarmherzig auf ihn nieder. Einmal stand er auf, blickte lange in die Richtung, wo das Dorf lag. Kein Mensch war zu sehen. Er biß die Zähne aufeinander. Seine Mutter wollte ihm zu essen und zu trinken bringen. Er schluckte trocken. Keinen Tropfen Speichel mehr hatte er im Mund. Er kroch wieder auf den Schlitten. Das Pferd stand regungslos, den Kopf zwischen die Halme gesteckt. Memed hatte es nicht einmal bemerkt.
»Hühott, mein Gaul!«
Jetzt riß er am Zügel. Die Fliegen umschwärmten das Tier, das sich vergeblich der Peiniger zu erwehren trachtete.
Zornig stand Memed auf, hielt wieder zum Dorf hin Ausschau. Jetzt tauchte hinter den Ackerkratzdisteln ein Kopf auf. Gleich darauf erkannte er seine Mutter. Schnell wurde sein Zorn zur Freude. Die Mutter kam näher, schweißüberströmt, die Hand, in der sie den Mundvorrat trug, schleifte fast am Boden.
»Wie ist's gegangen, mein Kind? Bist du jetzt über den Berg?«
»Die Garben liegen alle«, sagte Memed.
»Aber die Halme sind dick, nicht wahr?«
»Waren sie, ja. Aber jetzt geht's schon leichter.«
Er nahm ihr den Wasserkrug ab, trank in endlosen Schlucken. Das Wasser rann ihm vom Kinn über die Brust bis zu den Beinen hinab.
»Komm herunter, Junge«, sagte die Mutter. »Ich will ein bißchen weitermachen. Iß dein Brot!«
Er gab ihr die Zügel in die Hand, ging in den Schatten des Brombeerdickichts und öffnete den Proviantbeutel. Zwiebeln waren darin, Salz und ein Säckchen Ayran, auf dem es von winzigen Mücken wimmelte. Den Ayran füllte er in eine Schale.
Nachdem er gegessen hatte, legte er sich im Schatten nieder. Nur sein Unterkörper und seine Beine lagen in der Sonne. Er schlief sofort ein. Als er wieder aufwachte, stand die Sonne schon tief. Er rieb sich die Augen, erhob sich und lief zum Dreschplatz. »Mutter, du bist jetzt müde!«
»Komm, steig wieder auf«, sagte sie, traurig, daß sie nicht mehr geschafft hatte.
Zwei Tage später wurde das Korn geworfelt, am Tag darauf fegte man die Spreu weg. Am folgenden Tag dann häuften sich die rötlichen Weizenkörner in der Mitte der Dreschplätze. Aber sie konnten den Weizen noch nicht in die Säcke füllen und nach Hause schaffen. Der Körnerhaufen blieb mitten auf dem Dreschplatz hegen, denn erst mußte Abdi Aga kommen und sich seinen Anteil holen. Diese Nacht über hielt Memed mit seiner Mutter Wache bei der Ernte, unter fortwährendem Kampf mit den Fliegen.
Der Morgen kam, Abdi Aga erschien nicht. Auch mittags noch keine Spur von ihm. Am Nachmittag kam er endlich. Drei seiner Tagelöhner ritten mit Packsätteln hinter ihm. Sein Gesicht verhieß nichts Gutes. Döne kannte ihn zu lange, um dabei nicht vor Angst zu erschauern. In ihrem lederartig verrunzelten Gesicht erschienen noch mehr Sorgenfalten.
Abdi Aga befahl sie mit einem Wink zu sich. Seinen Leuten rief er zu: »Drei Viertel für uns, eines für Döne.«
Döne klammerte sich an seinen Steigbügel. »Nein, Herr! Bitte nicht! Dann müssen wir diesen Winter verhungern. Bitte, bitte, Aga, Eure Fußsohlen will ich küssen!«
»Laß das Geflenne, Döne! Du kriegst genau, was dir zusteht.«
»Mein Teil ist ein Drittel«, ächzte sie.
Der Aga beugte sich von seinem Pferd herab, schaute Döne in die Augen. »Wer hat dein Feld geackert, Döne?«
»Ich, Herr.«
»Und meine Tagelöhner haben dir nicht geholfen?«
»Doch, Herr.«
»Hör mal, Döne!«
»Bitte, Herr?«
»Du hättest lieber deinem Sohn sagen sollen, er solle nicht fortlaufen und Ziegenhirt bei Süleyman spielen!« Damit trieb er sein Pferd an.
Döne war totenblaß geworden. »Um, Gottes willen, tut das nicht, Aga!«
Sie konnte es nur noch matt hinter ihm herrufen.
Die Tagelöhner machten sich daran, die Anteile abzumessen, drei Viertel für den Aga, ein Viertel für Döne. Der eine Haufen türmte sich immer höher, der andere schrumpfte zusehends zusammen.
Döne sah auf beide Haufen und stieß Verwünschungen aus: »Gib Gott, daß du mit deinem Anteil nicht glücklich wirst, Ziegenbart! Für Ärzte und Spital soll es draufgehen! Die Würmer sollen darin herumkriechen, damit er's nicht fressen kann!«
Die Tagelöhner luden des Agas Anteil auf die drei Pferde. Keiner sprach ein Wort mit Döne. Einer wie der andere blieb stumm wie die Erde. Memed setzte sich neben seine Mutter. Ein kleiner Weizenhaufen lag noch inmitten des staubigen Dreschplatzes. Und eben war er noch so hoch gewesen. Der Knabe blickte vom Rest der Ernte zu seiner Mutter. Schuldbewußt
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