Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
ausbreiten und mich vom Wind tragen lassen konnte. Dann bin ich einfach gesegelt.«
»Und wie war es in diesem Traum?«
»Ich hatte keine Vögel im Rücken, aber ich war auch kein kleiner Junge mehr. Ich war ich selbst, jetzt, aber …«
»Aber du warst rein?«
»Ja, wahrscheinlich. Deshalb hab ich beim Aufwachen wohl auch an Partridge gedacht …«
»Und wie hast du dich gefühlt?« Pressia hat noch nie vom Fliegen geträumt.
»Irgendwie … jünger. Ich war zwar so alt wie jetzt, aber es war anders. Als könnte ich fliegen, weil mich nicht so vieles belastet hat. Ich wusste, dass meine Eltern am Leben sind; in Träumen weiß man so was manchmal einfach. Unter mir waren Wiesen und Flüsse, eine grüne Landschaft, als wären die Bomben nie gefallen.«
»Und ich bin auch vorgekommen?«
»Ich hab den Fluss entdeckt, den wir überquert haben, und du warst im Wasser. Ich hab dich gesehen. Du hast um dich geschlagen.«
»Ich bin ertrunken?«
»Das dachte ich auch. Deshalb bin ich runter, um dich zu retten, und plötzlich war es wieder Nacht, dieselbe kalte Nacht.« Pressia nickt eilig. Sobald sie an damals denkt, wird sie rot. »Aber ich wusste, wenn ich zu dir will, muss ich mich erinnern, dass meine Eltern tot sind und dass die Welt eine Aschegrube ist. Und als ich mich daran erinnert habe, bin ich abgestürzt. Ich bin im Fluss gelandet und untergetaucht, und da warst du, tief unter Wasser. Und ich war wieder ich selbst – mit den Vögeln im Rücken und den Narben. Und …«
»… und du hast mich gerettet?«
Er schüttelt den Kopf. »Ich erzähl dir von dem Traum, weil er zeigt, dass ich dich nicht durchschaue.«
»Stimmt …«
»Du warst bei den Mädchen – dieselben Gesichter wie hier an der Wand –, und du konntest unter Wasser atmen. Du konntest sogar singen. Ihr habt alle gesungen, ein Lied, das sich durchs Wasser ausgebreitet hat. Vibrierende Noten, die ich auf der Haut gespürt habe.«
Sie denkt an seine Haut auf ihrer Haut und an den Schnee, der wie graue Spitze gefallen ist. »Und?«
»Du musstest gar nicht gerettet werden. Ich dachte, du ertrinkst, aber dir ging es gut. Und du hast mir einen Blick zugeworfen, den ich gar nicht beschreiben kann.«
»Was für einen Blick?«
»Einen … wilden Blick. Ich war mir nicht sicher, ob du wütend bist oder …«
»Oder was?«
»Nichts. Wie gesagt, ich kann dich nicht durchschauen, nicht mal im Traum.«
Pressia blickt erneut in den Rucksack, als wüsste sie nicht längst auswendig, was sie eingepackt hat. »Auf dem Markt gibt es eine Traumdeuterin. Warst du schon mal da?«
»An so was glaube ich nicht.«
»Ich schon. Jedenfalls ab und zu.«
»Willst du meinen Traum deuten?« Er richtet sich auf und stellt die Füße auf den Boden.
Pressia hat den Traum schon gedeutet. Bradwell begleitet sie auf diese Reise, um über sie zu wachen, sie zu beschützen – aber vielleicht meldet sich in ihm zugleich eine Stimme, die bezweifelt, dass sie seinen Schutz braucht? Sie hebt den Rucksack auf und lehnt ihn neben die Tür. »Du kannst das Versprechen, das du meinem Großvater gegeben hast, nicht loslassen. Sogar im Traum willst du dein Wort halten. Und du bist bereit, dafür vieles zu opfern – sogar die Vorstellung, dass deine Eltern noch am Leben sind.«
»Ich fürchte, du durchschaust mich besser als ich dich.« Kaum hat er den Satz beendet, begreift sie, dass es ihr lieber gewesen wäre, wenn er ihr widersprochen hätte. Sie will nicht, dass er diese alte Schuld immer noch mit sich herumträgt. Sie will keine Last mehr sein. Es ist ein sonderbarer Augenblick. Pressia weiß nicht, was sie sagen soll. Sie betrachtet die Gesichter der Mädchen – besonders das, das sie an ihre alte Freundin Fandra erinnert.
Dann dreht sie sich um und sieht Bradwell an. »Warum willst du überhaupt mitkommen? Kein Überlebender hat es jemals wirklich weit geschafft und ist zurückgekehrt.«
»Und du? Warum willst du aufbrechen?«
»Wegen Wilda. Wenn wir die Formel finden, können wir sie vielleicht noch retten.« Pressia lügt nicht, aber das ist nur die halbe Wahrheit. Sie spürt, wie sich die ganze Wahrheit in ihrem Inneren regt und die Klauen ausfährt. Die Wahrheit will raus. »Und ich will wissen, ob da draußen noch andere sind. Vielleicht haben sie es geschafft und wollten nicht zurückkommen.« Sie geht zum Tisch, nimmt sich das Küchenmesser, mit dem sie die Wolldecke zerschnitten hat, und fährt über die Klinge – immer noch scharf.
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