Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
stolpert zurück.
»Nein!«, schreit El Capitán, Helmud auch.
Aber Pressia weiß, dass Hastings nicht anders kann. Sie dreht sich um. Sie will es nicht mitansehen.
Stattdessen blickt sie auf den toten Dust, dessen Hand die Flüssigkeit aus der Ampulle aufgenommen hat. Seine Muskeln sind aufgequollen – dicke, kräftige, gewölbte Stränge reichen bis über den Unterarm. Pressia ruft sich ins Gedächtnis, was ihre Mutter Partridge erklärt hat: Das bionanotechnologische Serum trennt kein Gewebe, sondern verbindet es und lässt es wachsen. Offenbar haben sich die menschlichen Zellen der Hand rasend schnell regeneriert. Ja, das Serum ist ein Heilmittel – aber ein Heilmittel, das nicht unbedingt weiß, wann es aufhören muss. Außerdem kann es keine Verschmelzungen rückgängig machen. Was würde es mit den menschlichen Zellen anstellen, die sich irgendwo unter Pressias Puppenkopffaust verbergen? Und trotzdem staunt Pressia über die Schönheit der Verwandlung – wie menschlich die Hand des Dusts auf einmal wirkt, wie elastisch sich die Haut über Knochen und Muskelgewebe spannt. Da hört sie das widerwärtige Knirschen, auf das sie gewartet hat, und ein heiseres Brüllen aus Hastings’ Kehle, das gar kein Ende nehmen will. Sie dreht sich um.
Hastings hat sich losgerissen. Er hat sein Bein auf Kniehöhe abgetrennt. Wo das Knie war, ist nur noch ein blutiges Gewirr aus Fleisch, Sehnen und Muskeln.
Nach zwei Hüpfern auf einem Bein geht er zu Boden. Blut strömt auf die Erde.
»Wir müssen das Bein abbinden!«, ruft Bradwell.
Mit der Puppenkopfhand drückt Pressia die Ampullen an die Brust, mit der anderen streift sie sich den Gürtel ab. Sie rennt zu Hastings und Bradwell und kniet sich hin. »Wir müssen so nah wie möglich an die Wunde ran. Hinten am Knie verläuft eine Arterie, die Femoralis. Wir müssen sie abschnüren, sonst verblutet er.«
Bradwell wirkt beeindruckt.
»Hey, mein Großvater war Fleischschneider. Ich habe viele Patienten festgehalten, denen ein Bein oder ein Arm abgenommen werden musste.«
Während Bradwell Hastings’ Oberschenkel auf den Boden presst, schlingt Pressia den Gürtel um das kräftige Bein, fädelt ihn durch die Schnalle und zieht ihn mit aller Kraft zu. El Capitán hilft ihr. Gemeinsam bohren sie ein neues Loch ins Leder, um die Schlaufe zu fixieren.
Bradwell zerrt Hastings am Uniformkragen nach oben. »Bleib bei uns, Hastings. Okay? Du musst durchhalten.«
El Capitán blickt sich um. »Wir werden hier draußen sterben.«
»Hier draußen sterben«, sagt Helmud.
Ja. Pressia spürt es. Der Geruch des Bluts lockt immer mehr Dusts an. »Bradwell …«, flüstert sie.
Er sieht sie an. »Ich weiß. Ich hab’s kapiert. Ich hätte Hastings vertrauen sollen. Vielleicht hätte ich generell mehr Vertrauen in die Menschheit haben sollen.«
»Das meine ich nicht.« Aber was meint sie dann? Kann sein, dass sie hier draußen sterben. Als sie das letzte Mal in dieser Lage waren, konnte sie weder sprechen noch klar denken. Will sie ihm sagen, dass sie sich fühlt, als würde sie fallen, wenn er in ihrer Nähe ist? Dass sie will, dass er dasselbe für sie empfindet?
»Pressia? Was ist?«
Ihre Brust schmerzt, als würde sie jeden Moment explodieren. Ein Sturm aus Wind und Sand hüllt sie ein. Sie fasst nach Bradwells Ärmel – als irgendwo über ihnen eine Melodie ertönt. Klimpernde Noten, ein fröhliches Liedchen, das aus einer veralteten Anlage schallt, begleitet von schrillen Rückkopplungen. Eine alte, leiernde Aufnahme.
»Klingt nach einem Eiswagen«, sagt Bradwell.
Pressia weiß nicht, wie Eiswagen klingen. Wurde Eiscreme wirklich in Wagen verkauft, die auch noch Musik machten?
Hastings will sich umsehen. »Unten bleiben«, befiehlt Bradwell.
Die Dusts scheinen das Lied zu kennen – und an ihren erschrockenen Grimassen und verzweifelt zwinkernden Augen ist abzulesen, dass es nichts Gutes verheißt. Sie richten sich auf und blicken in den Himmel, schlagen sich mit den Händen auf die Ohren, fallen auf die Knie und neigen den Kopf. Manche jammern und heulen.
Irgendetwas zischt durch die Luft. Der Schädel eines Dusts wird nach hinten gerissen. Das Wesen schreit, zieht das Kinn an und stochert sich im Auge herum. Blut fließt aus der Wunde und tränkt die Erdhaut seines Gesichts. Direkt neben Bradwell schlägt eine weitere Kugel ein. Er reißt Pressia mit einer Hand nach unten und schirmt Hastings und sie mit dem Körper ab. Auch El Capitán und Helmud verbergen
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