Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
die Köpfe unter den Armen.
Die Dusts tauchen ab. Sie können sich nur langsam bewegen, doch die Panik ist ihnen anzusehen. Weitere Projektile bohren sich in ihr Fleisch, und eines kullert vor Pressias Augen – eine kleine, harte Kugel. Als sie sie aufhebt, blickt Bradwell herüber. »Sind wir hier in einer Schießbude, oder was?«
»Schießbude?«, fragt sie.
Sie suchen den Vergnügungspark nach Angreifern ab. »Da schießt irgendwer mit Luftgewehren!«, ruft Bradwell.
Ein Dartpfeil segelt durch die Luft und durchschlägt die Schläfe eines Dusts. Seine Augen erblinden, erstarren. Mit einem kehligen Gurgeln kippt er vornüber und bleibt liegen.
Pressia studiert den knorrigen Hals der Achterbahn. »Ich weiß nicht, wer da ist, aber sie beschützen uns.«
Die Musik klimpert weiter vor sich hin, während die verängstigten Dusts in der Erde versinken. Ein paar letzte Augen blinzeln einmal, zweimal – und verschwinden.
Am Maschendrahtzaun reihen sich spitze Metallstangen auf. Sie müssen tief in den Boden reichen, denn Dusts bewegen sich unterirdisch. Pressia kann die Oberseite des Hartplastik-Clownskopfs erkennen. Durch den kahlen Schädel verläuft ein länglicher Riss, als würde er gleich auseinanderbrechen und einen geheimen Inhalt offenlegen. Als Mund hat er einen knallroten Halbkreis, als Nase einen roten Ball, seine Augen stehen weit hervor. Pressia fühlt sich beobachtet.
Neben Crazy John-Johns Kopf erhebt sich ein hoher Mast, der in der Mitte eingedellt und abgeknickt ist und sich trotzdem gerade so aufrecht hält. An seiner Spitze hängen zwei Megafone, die seitlich abstehen wie Metalllilien. Daher kommt die Musik. »Wer ist da?«, ruft Pressia.
Bradwell, der schon wieder auf den Beinen ist, späht durch den Maschendrahtzaun.
Jetzt stehen auch El Capitán und Helmud auf und schleppen sich zum Zaun. Pressia bleibt bei Hastings.
»Sind die Dusts weg?«, fragt Hastings.
»Ja, vorerst.« Pressia fühlt sich wie betäubt. Der Sturm hat sich nicht gelegt. Der kalte Wind weht das müde, matte Klimpern der Kirmesmusik herüber. »Irgendwer hat uns gerettet. Sie müssen uns helfen. Wir müssen dich in Sicherheit bringen.«
»Lasst mich zurück«, verlangt Hastings.
»Nichts da«, erwidert Bradwell. »Du hast mir das Leben gerettet. Das vergess ich dir nie.«
»Hier wird es schnell dunkel«, sagt Pressia. »Und jetzt, wo das Auto hinüber ist …«
»Sag das nicht«, entgegnet El Capitán. »Das Auto … ruht sich nur aus.«
»Ruht sich nur aus«, echot Helmud.
»Na gut. Jetzt, wo sich das Auto ausruht , sind wir nichts als lebendige Zielscheiben.«
Bradwell nickt. »Stimmt. Wir wissen nicht, wer sich im Park versteckt, aber wir brauchen ihre Hilfe.«
Auf dem Boden entdeckt Pressia einen blutigen Dartpfeil – wahrscheinlich hat ihn sich ein Dust aus dem Auge gezogen und fallen lassen. Sie geht rüber und stupst ihn mit der Stiefelspitze an. Der Schaft wird von Klebeband zusammengehalten. »Seht mal her.«
El Capitán taucht neben ihr auf. »Klebeband! Gott, wie ich das gute alte Klebeband vermisse!«
Pressia nähert sich dem Maschendrahtzaun. Sie mustert die kleinen, kastenförmigen Verschläge auf der anderen Seite und stellt sich vor, dass es früher mal Buden waren, wo man einen Goldfisch in einer Plastiktüte gewinnen konnte wie ihr Großvater auf dem italienischen Straßenfest, das er als Junge besucht hat. Hat er ihr nicht erzählt, dass er Dartpfeile auf Ballons an einem Korkbrett geworfen hat?
Ein Schatten huscht von einem Verschlag zum anderen. Schnell läuft Pressia am Zaun entlang, um vielleicht einen weiteren Blick auf die Gestalt zu erhaschen – und sie hat Glück.
Es ist ein Mädchen mit langem, goldenem, verfilztem Haar. Ihr linker Arm ist verschrumpelt, ein Stumpf knapp unter dem Ellenbogen.
Fandra.
Ihre beste Freundin, die sie so lange tot geglaubt hat, ist am Leben. Pressia fühlt sich, als wäre ein Teil ihrer selbst zurückgekehrt – alles ist wieder da: der ausgebrannte Friseurladen, Freedle in seinem wankenden Käfig, ihr Großvater mit seinem Beinstumpf und dem surrenden Ventilator in der Kehle. Fandra und sie haben oft Vater-Mutter-Kind gespielt, in einem Haus aus Decken, die sie zwischen Tisch und Stuhl aufgespannt haben. Dieses Zuhause, begreift Pressia plötzlich, das sie in ihrer kindlichen Fantasie gemeinsam mit Fandra erschaffen hat, war das sicherste, wahrhaftigste Zuhause, das sie je hatte.
»Fandra!«, ruft sie.
Fandra rennt zum Zaun und hakt eine
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