Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
keinen Ring trägt. Sollte er ihr nicht erst mal einen Antrag machen? Er denkt an Lyda. Daran, dass er ihr die Spieluhr geschenkt hat. Das war mehr als ein Ring. Es war die Wahrheit. Das hier ist alles vorgetäuscht, vorübergehend.
Er hört das Geplauder der Menge, hin und wieder durchbrochen von einem flirrenden Lachen. Diese Leute wissen, dass er geflohen ist. Sie denken, es wäre eine Mutprobe gewesen, um ein Mädchen aus schlechter Gesellschaft zu beeindrucken. Aber sie haben bestimmt keine Ahnung, dass er seinem Vater die Erinnerung an diese Zeit ausliefern soll. Und was dann? Werden sie alle so tun, als wäre die Geschichte um das Mädchen aus schlechter Gesellschaft auch aus ihren Köpfen verschwunden? Aber mit Verdrängung kennen sich diese Menschen aus. Sie praktizieren sie täglich, wie eine Religion.
Arvin Weed – so heißt Partridges einzige Chance. Glassings mag seine Zweifel haben, doch Partridge darf die Hoffnung nicht aufgeben, dass Arvin die verdammte Operation vortäuschen kann, um ihn unbeschadet durchzuschleusen. Er ist doch ein Wunderkind, oder? Hoffentlich treibt Arvin sich unter den geladenen Gästen herum. Hoffentlich kann Partridge kurz unter vier Augen mit ihm sprechen.
Partridge zieht sich aus und nimmt den ungetragenen Anzug vom Bügel. Er steigt in die Hose, knöpft sich die Hemdärmel zu, bindet sich die hellblaue Krawatte, schlüpft in das dunkelblaue Jackett. Die Kleidung passt perfekt, bis hin zum sanft geschwungenen Leder der Schuhe – so perfekt, dass er sich fragt, ob sie die Maße seiner alten Mumienform übernommen haben. Es beunruhigt ihn, dass sie so viel über ihn wissen. Sie kennen nicht nur seine Schuhgröße, sondern auch seine DNA.
Er hat keine Lust auf Lächeln und Händeschütteln. Am Ende taucht auch Iralenes Mutter Mimi auf? Gut möglich, dass sie zu solchen Anlässen aus der Kapsel steigt.
Es klopft an der Tür. »Brauchen Sie noch irgendetwas?«, erkundigt sich Beckley.
»Nein, alles in Ordnung.«
»Die Leute fragen schon nach Ihnen. Sind Sie so weit?«
»Eine Minute noch.« Er lässt die Kappe vom kleinen Finger ploppen. Eines Tages wird vielleicht nichts mehr darauf hindeuten, dass der Finger abgehackt wurde. Oder wird eine winzige Narbe zurückbleiben, eine letzte Spur der Wahrheit, nachdem seine Erinnerung ausgelöscht wurde? Erst die Forschungsarbeiten seiner Mutter haben die Heilung möglich gemacht. Mit ihrer Bionanotechnologie hätte sie auch ihre eigenen Gliedmaßen regenerieren können, aber das wollte sie nicht. Ihr Körper war die Wahrheit, sie wollte die Wahrheit nicht vertuschen. Scheiße , denkt Partridge, was mache ich hier eigentlich?
Wieder klopft es. »Sir?«
Partridge steckt die Kappe auf den Finger, öffnet die Tür und marschiert mit Beckley im Rücken auf die Stimmen zu. »Bringen wir’s hinter uns«, sagt er, während er durch das weiße, flauschige Wohnzimmer auf die Terrasse geht.
Alles dreht sich um. Viele klatschen. Irgendwer schlägt mit dem Gäbelchen gegen sein Weinglas. Es klimpert. Partridge sieht etliche bekannte Gesichter – lauter lächelnde, lachende Gesichter, die seinen Namen rufen. Alte Nachbarn aus Betton West sind dabei, der Heimat seiner Kindheit, die Belleweathers, die Georges, die Winthrops, aber auch hochrangige Funktionäre wie Collins, Bertson und Holt und einige, die er nur von öffentlichen Bekanntmachungen kennt, unter anderem Foresteed selbst, das neue Gesicht der Führung des Kapitols. Immer mehr Leute lassen die Gabeln und Weingläser klirren. Selbst die Bediensteten, junge Männer und Frauen in weißen Hemden und marineblauen Westen mit Fliege, stehen wie angewurzelt da und lächeln. Sie bieten echtes Essen an: Blätterteiggebäck, mit Zahnstochern aufgespießte Hühnchenwürfel. Was erwarten diese ganzen Menschen von ihm?
Beckley beugt sich vor. »Sie könnten mal winken.«
»Wie bitte?«, fragt Partridge verdutzt.
»Nicken Sie wenigstens.«
Nach einem halbherzigen Winken vergräbt Partridge die Hände in den Hosentaschen. Und jetzt? Als er Mimi entdeckt, ist er direkt erleichtert. Sie hat Iralene im Schlepptau. Mimis Haut schimmert vor Make-up, ihre Augen strahlen, ihr Haar türmt sich auf ihrem Kopf wie eine mehrstöckige Torte aus locker geflochtenen Locken.
Iralene trägt ein Kleid und ein Mieder mit blau gefärbten Blüten, die zu Partridges Krawatte passen. In der Hand hält sie ein Anstecksträußchen – dieselben blauen Blüten wie auf ihrem Kleid. Die Blüten wirken echt,
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