Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Schwestern.
Eines Tages werden wir aus dem Kapitol treten,
um uns in Frieden mit euch zu vereinen.
Bis dahin jedoch beobachten wir euch
aus der Ferne, voller Gnade.
Als die Botschaft in den Tagen nach den Bomben aus einem Luftschiff zu Boden flatterte, müssen die Menschen sie für ein Versprechen gehalten haben. Jetzt gleicht sie einer Drohung.
Bradwell schiebt eine schwere Metallstange vor die Tür – einen Riegel, den er eigenhändig an die Wand geschraubt hat.
»Schön hast du’s hier«, sagt Pressia.
Bradwell geht zu seiner Pritsche und streicht die Decke glatt. »Ich kann mich nicht beschweren.«
Währenddessen schlendert Pressia zum Tisch und nimmt die Glocke in die Hand, die sie ihm auf der Farm gegeben hat. Sie hatte die Glocke im ausgebrannten Friseurladen gefunden, kurz bevor sie ihr Zuhause verlassen hat. Die Glocke hat keinen Klöppel mehr. Jetzt liegt sie auf einem Zeitungsausschnitt, der das Bombardement überlebt hat; wahrscheinlich in der Truhe von Bradwells Eltern, denn er ist nicht aschgrau und angesengt wie so viele andere Dokumente. Bradwell hat gut darauf aufgepasst. Auf die Überbleibsel aus der Vergangenheit passt er immer gut auf. Nach dem Mord an seinen Eltern – sie wurden im Bett erschossen – hatte er die Truhe in einem geheimen, gut geschützten Tresorraum entdeckt. In der Truhe lag die unvollendete Arbeit seiner Eltern, die Willux zu Fall bringen sollte; Bradwell hat sie zusätzlich mit Dingen gefüllt, die er bewahren will: alte Zeitschriften, Zeitungen, Verpackungen. Hier unten hat er die Truhe unter ein rostiges Edelstahlwaschbecken geschoben. Die Glocke steht auf einer Schlagzeile. TOD DURCH ERTRINKEN WAR LAUT GERICHT UNFALL, entziffert Pressia den Rest der Worte. Daneben ist das Foto eines jungen, uniformierten Mannes abgedruckt, der mit steinernem Blick in die Kamera starrt. Bradwell benutzt die Glocke als Briefbeschwerer. Ist sie ihm denn gar nicht wichtig?
Pressia will nach Freedle sehen. Sie hebt ihn aus der Tasche und setzt ihn auf den Tisch. Seine Augen klappen auf, er sieht sich um.
Da surrt die Blackbox an Pressias Füßen vorbei. »Sie hat wirklich was von einem Haustier«, stellt Pressia fest. »Von einem Hund.«
»Ich hatte mal einen Hund«, erwidert Bradwell.
»Das hast du mir nie erzählt.«
»Ich hab Partridge davon erzählt, als wir draußen in den Meltlands nach dir gesucht haben. Art Walrond, ein Freund der Familie, hat meine Eltern überredet, mir einen Hund zu kaufen. Ein Einzelkind braucht einen Hund, hat er gesagt. Ich hab den Hund Art Walrond genannt.«
»Komischer Name für einen Hund.«
»Ich war ein komisches Kind.«
»Aber wenn dieser Freund der Familie Art Walrond und der Hund der Familie Art Walrond gleichzeitig im Zimmer waren und du gesagt hast: ›Sitz, Art Walrond‹ – wer hat sich dann hingesetzt?«
»Ist das eine philosophische Frage?«
»Vielleicht.« Auf einmal ist zwischen Bradwell und ihr beinahe wieder alles in Ordnung. Vielleicht können sie Freunde sein. Freunde, die sich gegenseitig aufziehen.
Bradwell beugt sich vor und tätschelt die Blackbox, wie man einem Hund den Kopf tätschelt. »Okay, es ist nicht ganz so wie damals mit Art.« Pressia versucht sich vorzustellen, wie Bradwell als Kind mit seinem Hund war, und wenn er noch so komisch war. Sie wüsste gerne, wie sie selbst als Kind war. Fast ihr ganzes Leben hat sie sich bemüht, sich an etwas zu erinnern, das nie geschehen ist, an ein Leben, das ihr Großvater für sie erfunden hatte. Und er war nicht mal ihr richtiger Großvater – er war ein Fremder, der sie gerettet und als Enkeltochter aufgenommen hatte. Ist ihm diese Lüge schwergefallen? Vielleicht hatte er selbst mal Frau und Kinder, vielleicht sollte sie seine tote Familie ersetzen? Pressia wird es nie erfahren, denn nun ist er ebenfalls tot.
Es wäre schön gewesen, Bradwell kennenzulernen, wenn die Bomben nie gefallen wären – in einer Realität ohne Puppenkopffäuste, ohne Narben und Vögel im Rücken, in einer Realität vor den vielen Verlusten. Vielleicht hätten sie sich unter einem Mistelzweig zum ersten Mal geküsst. Davon hat Großvater ihr mal erzählt.
An der Wand auf der anderen Seite des Tisches entdeckt Pressia drei Reihen aus kleinen, quadratischen Türen, jeweils drei nebeneinander. Insgesamt neun. Neugierig geht sie hinüber und legt die Hand auf einen der Griffe.
»Dadrin wurden die Leichen aufbewahrt«, erklärt Bradwell. »Und auf dem Tisch wurden Autopsien
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