Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
durchgeführt.«
Die Toten. Pressia erinnert sich an das Gesicht ihrer Mutter – und wie plötzlich es verschwunden war. Sie zieht die Hand zurück und blickt auf die gegenüberliegende Wand, auf den rissigen Beton. Durch die Spalten sickert Erde in den Raum. »Ist doch klar, dass hier Leichen aufbewahrt wurden. Es ist eine Leichenhalle«, sagt sie, mehr zu sich selbst als zu Bradwell.
»Manchmal werden hier immer noch Leichen aufbewahrt.«
»Dann hättest du ja sozusagen einen Mitbewohner«, versucht Pressia, die Stimmung aufzulockern.
»Ja, sozusagen. Ich hab tatsächlich einen.«
»Wen?«
»Einen Jungen, der draußen im Wald umgekommen ist. Willst du ihn kennenlernen?«
Pressia fühlt sich, als wären sie plötzlich nicht mehr unter sich. »Ist er hier?«
»Eine Patrouille hat ihn gefunden, Cap hat ihn dann hergebracht. Er will wissen, wie er umgekommen ist. Und natürlich suchen sie nach seiner Familie. Sie sollen ihn identifizieren.«
»Und wenn er keine Familie hat?«
»Dann wird wohl ein neuer Rekrut die Ehre haben, ihn zu begraben.« Als Bradwell an einem der Griffe zieht, macht Pressia sich darauf gefasst, gleich den toten Jungen zu erblicken. »Aber wie es der Zufall so will, eignet sich eine Leichenhalle auch perfekt, um Blackboxes aufzubewahren.« Eine lange Bahre gleitet aus der Wand – darauf stehen die fünf anderen Blackboxes. Sie bewegen sich nicht, ihre Lichter sind dunkel. Unter jeder Blackbox klebt ein Zettel voller Notizen unter einer großen Überschrift – die Namen, die Bradwell den Blackboxes gegeben hat: Alfie, Barb, Champ, Dickens, Elderberry, in alphabetischer Reihenfolge. Als Fignan um Bradwells Füße surrt, stößt Freedle sich vom Tisch ab und flattert um ihn herum. Daraufhin schiebt sich eine Kamera auf einem kleinen Arm aus der Oberseite der Blackbox, um die fliegende Zikade zu filmen.
»Muss man ihnen wirklich Namen geben?«, fragt Pressia.
»Na ja, dann ist es leichter, mit ihnen zu reden. Ich bin allein aufgewachsen. Ich kann mich mit allem und jedem unterhalten.« Und wieder erhascht Pressia einen Blick auf Bradwells Kindheit. Er musste schon mit zehn Jahren auf sich selbst aufpassen, allein im Keller einer Metzgerei. Ein einsames Leben. Oder war er gar nicht einsam? »Aber eigentlich sind die Namen egal«, fährt er fort. »Denn innen sind die fünf hier genau gleich. Sie sind darauf ausgelegt, extreme Hitze, extremen Druck und extreme Strahlung auszuhalten. Und unten hatten sie drei Stöpsel.« Er hebt eine der Boxes hoch und zeigt Pressia drei kleine Löcher, die unter den Stöpseln verborgen waren. »Ich hab sie mit Caps selbstgebastelter Lötlampe abgeknapst und dann …« Er zaubert drei Drahtstücke hervor und steckt sie gleichzeitig in die drei Löcher, was einiges Geschick erfordert. »Ta-daaa.« Mit einem Surren schiebt sich der Deckel der Blackbox zurück. In ihrem Inneren liegt etwas Rotes, Ovales aus schwerem Metall.
»Was ist das?«
»Dadrin sind die ganzen Informationen gespeichert. Das ist das Gehirn. Es reagiert auf einfache Befehle.« Er macht eine Pause. »Ei öffnen.«
Das Ei summt. Eine kleine Schiebetür aus Metall öffnet sich und offenbart Mikrochips und Drähte, ein unüberschaubares Netzwerk synapsenartiger Verbindungen.
»Das Gehirn. Ist es nicht schön?« Bradwell nimmt das rote Ei heraus und dreht es in der Hand. »Es enthält eine ganze Bibliothek aus Daten.«
»Eine Bibliothek«, flüstert Pressia ehrfürchtig. »Das waren Gebäude, in denen Bücher aufbewahrt wurden, ganze Räume voller Bücher. Und es gab Leute, die sich um die Bücher gekümmert haben.«
»Die Bibliothekare.«
»Ja, ich hab davon gehört.« Aber sie konnte es sich kaum vorstellen. »Man durfte die Bücher sogar mit nach Hause nehmen, wenn man versprochen hat, sie zurückzubringen.«
Bradwell nickt. »Als Kind hatte ich auch einen Bibliotheksausweis. Mit meinem Foto und meinem Namen in Schreibmaschinenschrift.« Als er für einen Moment in der Erinnerung versinkt, beneidet Pressia ihn. Sie hat sich eine Kindheit aus den Erzählungen ihres Großvaters erschaffen, und nun muss sie diese Welt wieder einreißen, die Erinnerungen auslöschen. Wenn sie sich doch nur an irgendetwas erinnern könnte, selbst an etwas so Einfaches wie einen Bibliotheksausweis mit ihrem Foto und ihrem Namen … Sie denkt an ihren richtigen Namen. Emi – zwei Laute, die nach einer halben Sekunde schon wieder verklungen sind. Brigid – wie eine Brücke über einen weiten,
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