Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Vögel mit zuckenden Augen. Einer, der deutlich größer und noch dazu pink ist, hat prächtige Schwingen und einen schiefen Schnabel. Rehe – sind es wirklich Rehe? – huschen aus dem Dickicht und rasen auf flinken Hufen davon. Viele sind schwarz, andere gestreift, und einige besitzen ein Geweih, flache, spitze, verschlungene oder eingerollte Hörner. Manche haben ein Fell, andere sehen aus wie in Wolle gepackt oder in Reptilienschuppen gehüllt, manche sind verbrannt und vernarbt, gesprenkelt von Glas- und Steinsplittern. Leichtfüßig setzen sie über den Schutt und verschwinden.
»Es kommt näher«, sagt El Capitán. »Wir sollten es den Rehen nachmachen.«
Sie rennen durch den spritzenden Sumpf, die Gewehre fest an die Brust gepresst.
Weiter vorne entdeckt Pressia einen Umriss, der auf sie zutrottet. Sie bleiben stehen. El Capitán legt das Gewehr an und zielt.
»Warte.« Pressia zögert. Haben die Tiere, die im nahen Zoo in Käfige gesperrt waren, nicht ein Recht darauf, das Land zu erobern? »Wir sind hier die Störenfriede.« Sie duckt sich ins Unterholz.
Wegen des dickflüssigen Nebels ist zunächst nur ein vager Schemen zwischen den Bäumen auszumachen, bis sich allmählich eine Gestalt herausbildet: ein monströser Gorilla. Wegen einer Eisenstange, die sich in sein linkes Bein eingebettet hat, hinkt der Gorilla, und seine gesamte Brust ist mit einer Gummischicht verschmolzen, einem Material mit tiefen Furchen. In den Armen hält der Gorilla ein Junges – ein schlaffes, teils vermodertes Junges. Es ist nicht mit der Mutter verwachsen, sondern nach der Geburt verendet. Pressia registriert den Gestank. Vermutlich ist das Junge an Flüssigkeitsmangel gestorben. Mit ihrer Gummibrust konnte die Mutter es nicht stillen.
Die Gorilladame kreischt. Sie klingt wütend.
Daraufhin kreischt auch Helmud.
»Klappe«, zischt El Capitán über die Schulter.
»Wenn sie denkt, sie muss ihr Baby beschützen, wird sie aggressiv«, flüstert Pressia.
»Die Reste ihres Babys, meinst du?«, fragt El Capitán.
Pressia nickt. »Sie hat es noch nicht aufgegeben.«
Ein anderes Brüllen ertönt – ein katzenartiges Fauchen aus der Ferne.
»Gab’s in dem Zoo auch Löwen?«, fragt El Capitán. »Oder will ich das gar nicht wissen?«
Bradwell seufzt. »Da gab’s so gut wie alles. Das volle Sortiment.«
»Hier entlang«, schlägt Pressia vor. »Da hinten ist eine Lichtung. Ich seh’s durch die Bäume.«
Zuerst weichen sie nur langsam zurück, weg von der Gorilladame, die sie tieftraurig betrachtet, als hätte sie auf Hilfe gehofft. Sie presst das Baby an die Brust und hockt sich auf einen Stein. Als sie ihr Junges zum Maul hebt, um es zu liebkosen, sieht Pressia ihre Hand – eine unbehaarte, blasse, feingliedrige Hand. Ein Rest Mensch.
Sie wendet den Blick ab.
Ist der Mensch vollständig in dem Tier aufgegangen?
El Capitán und Bradwell rennen bereits. Pressia ist übel und heiß, bis ins Zentrum ihres Körpers, doch sie rappelt sich auf und sprintet ebenfalls los. Es geht wieder Richtung Osten. Hinter den Bäumen stoßen sie auf einen Sumpfstreifen, dahinter erneut auf Bäume. Pressia hat sich an die Spitze gesetzt – doch mitten im Spurt sackt der Boden unter ihr weg, und sie kippt nach vorne. Erst einen halben Meter weiter unten trifft ihr Fuß wieder auf harten Untergrund. Sie wankt, hält sich aber auf den Beinen.
Auch Bradwell und El Capitán stolpern einen halben Meter in die Tiefe. Bradwell blickt nach Osten – wo sich der gesplitterte Bleistift und das Kapitol erheben – und nach Westen auf das Lincoln Memorial, das aussieht wie zerhackt. »Das Reflexionsbecken«, sagt er, während er mit dem Stiefel im Wasser tastet. »Ja, das könnte es sein.«
»Das Reflexionsbecken?«
»Hier wurde früher demonstriert. Damals, als das noch erlaubt war«, erklärt Bradwell. »Genau hier haben sich die Leute versammelt und Reden gehalten, um für den Wandel zu kämpfen.«
Nebeneinander staksen sie durch das Becken, das eine Weile immer tiefer wird. Als Pressia das dunkle Wasser bis zur Hüfte reicht, spürt sie etwas an den Beinen. Fische? Schlangen? Wasserratten? Oder Mischformen aus allen dreien? Zum Glück kann sie kaum etwas erkennen – sie will es gar nicht wissen. Mit geschlossenen Augen läuft sie weiter, und als sie sich der anderen Seite nähert, geht das Wasser nach und nach zurück. Bis zum Obelisken ist es nicht mehr weit. Gleich dahinter liegt das Kapitol.
Sie rennen über einen kleinen
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