Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Pressia würde gerne an Gott glauben, und manchmal glaubt sie tatsächlich. Manchmal glaubt sie zu spüren, dass sich hinter dieser Welt noch etwas anderes verbirgt. Sie blickt oft in den Himmel. Die Menschen im Kapitol tun ihr leid, weil sie alles haben, nur keinen Himmel.
»Vielleicht sind Gott und die Wahrheit ja dasselbe?«, meint Bradwell. »Vielleicht ist die Wahrheit der Mittelpunkt von allem. Wenn man daran glaubt, glaubt man auch, dass die Wahrheit am Ende siegen wird. Dass sie sich offenbaren wird.«
»Wie Gott?«, fragt Pressia.
»Ich weiß es nicht.«
»Im Davor wurde die Schublade, in der wir Gott aufbewahrt haben, immer kleiner und kleiner. Auf der einen Seite war die Wissenschaft – und Willux dachte, mit so viel Wissenschaft könnte er selber Gott spielen. Auf der anderen Seite war die Kirche, die die Mächtigen zu ihrem eigenen Nutzen erfunden hatten. Eine Kirche, in der die Reichen nur reich sein mussten, um gesegnet zu sein. Und sobald ein Mensch über dem anderen steht, kommen die Leute mit allen möglichen Grausamkeiten durch.« Er zuckt mit den Schultern.
»In den Explosionen ist die Schublade, in die wir Gott gesteckt hatten, mit allem anderen hochgegangen«, überlegt Pressia. »Oder sie ist immer kleiner geworden, bis nur noch ein Körnchen Gott existiert hat, vielleicht nur ein Atem Gott.«
»Aber vielleicht kann Gott selbst mit so wenig überleben?«
El Capitán, der einige Meter vorausgeeilt ist, dreht sich zu Pressia und Bradwell um. »Von hier oben hat man einen guten Blick! Kommt!«
Eilig krabbeln sie den Schutt hinauf. Dazwischen entdeckt Pressia immer wieder vielfarbige Scherben; selbst unter der dicken Ascheschicht leuchten die Farben der Kirchenfenster noch. Sie hebt einen Glassplitter auf. Die Kanten sind scharf, die Oberfläche glatt. Früher war der Splitter ein Teil von etwas Schönem, das die Menschen berührt hat.
Vom Gipfel der Trümmer aus blickt Pressia auf die gefallenen Kathedralentürme. Tief unten, verloren im Hohlraum des ausladenden Kirchenschiffs, liegen die Reste des grünen Kupferdachs, das unter dem eigenen Gewicht nachgegeben hat. Durch die groben Schichten aus Asche und Erde schimmern gelbe und rote Farben, Unmengen zerschlagenes, sinnentleertes, chaotisches Buntglas. Pressia hat mal gehört, dass Kunst die Welt widerspiegeln soll. Dann wären auch die kaputten Kirchenfenster immer noch Kunst.
»Das ist also von Washington übrig«, sagt Bradwell, der neben ihr in die Ferne starrt.
Pressia dreht sich um und studiert die Landschaft. Die Stadt wurde dem Erdboden gleichgemacht und von einem sumpfigen, eisigen Moor überrollt. Durch das feuchte Unterholz flitzen Bestien und Vögel. Riesige Gerölldünen führen zu den geisterhaften Überbleibseln eines gekappten Obelisken – ein Stumpf und ein langer Strich aus gesprungenem Stein. Wahrscheinlich weißer, nun rußgeschwärzter Marmor.
»Das Washington Monument«, erklärt Bradwell. »Der Bleistift. So wurde es früher genannt.«
»Wo ist das Weiße Haus?«, fragt Pressia.
»Da drüben.« Bradwell zeigt auf einen Punkt leicht nördlich des gefallenen Obelisken. »Da war es mal.«
»Und die Museen?«, erkundigt sich El Capitán, während Helmud aufgeregt über seine Schulter linst. »Du hast mir doch eine Exkursion versprochen!«
»Da drüben. Das Archiv, die Nationalgalerie, Amerikanische Geschichte, Naturgeschichte, das Museum der Rechtschaffenen Roten Welle … der ganze gesprengte Stein auf einer Linie östlich vom Bleistift.« Bradwell deutet auf einige Steinhügel. »Die Unabhängigkeitserklärung könnte sogar überlebt haben. Angeblich konnte man sie in Sekundenschnelle in ein unterirdisches Gewölbe versenken. Da hätte sie wohl selbst einen direkten Treffer überstanden.«
»Und dahinten?« El Capitán deutet etwas weiter nach Osten. »Da wollen wir doch hin, oder?«
Tatsächlich. Das Kapitol schimmert am Horizont wie eine zerbrechliche Seifenblase. Es sieht ziemlich klapprig aus, aber es steht noch, auf einem kleinen Hügel im Moor – ein angeschlagener Kuppelbau aus blassem, inzwischen ergrautem Stein. Wo das Dach nicht eingestürzt ist, wird es von tiefen Rissen durchzogen, und in den Wänden klaffen so viele Löcher, dass das Gebäude richtig luftig wirkt. Aus der Ferne ähnelt es weißer Spitze; Pressia erinnert es an die feinen, durchscheinenden Löcher, die Motten in Wolle fressen.
Wegen der zahlreichen Lücken kann Pressia erkennen, dass die Kuppel alles andere als leer ist.
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