Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Kapitol hinuntergerannt ist – an das Gefühl, zum ersten Mal seit ihrer frühen Kindheit wirklich zu rennen, an das Gefühl der Freiheit. Nun rennt sie zurück. Sie holt alles aus sich heraus, die Augen fest auf das Kapitol geheftet.
Ein paar Granaten explodieren. Schüsse aus den Bäumen.
Wenn sie Glück hat und keine Kugel abbekommt, könnte sie bald wieder auf dem schmalen Bett in ihrer alten Zelle liegen, zwischen den weißen Wänden, wo die verräterische Uhr, die Essenstabletts, die winzigen Pillen und das falsche Fenster auf sie warten, eine projizierte Endlosschleife, die den Wandel des Lichts im Tageslauf imitieren soll. Sie werden ihr wieder den Kopf rasieren, so gründlich, dass sie ihr in die Kopfhaut schneiden.
Ihre Mutter wird sie besuchen, voller Scham, mit flammend roten Wangen.
Und Partridge – er wird doch auch auf sie warten, oder?
Die letzten Explosionen, die letzten Schüsse verklingen. Es wird still. Totenstille. Nur der Wind, der sich in ihre Ohren bohrt, ist noch zu hören. Ihre Kehle ist staubtrocken, ihre Lunge kalt. Darf man als Schwangere nicht rennen? In der Akademie sind die Frauen nie gerannt.
Das Trampeln ihrer Füße und das Hämmern ihres Herzens übertönen alles andere, doch aus dem Augenwinkel sieht sie etwas – eine schnelle, verschwommene Bewegung.
Nicht hinschauen , denkt sie. Nicht hinschauen.
Sie hört ein Klicken, das Echo eines leisen Klimperns, und spürt einen scharfen Stich im Oberschenkel. Als sie an sich herabblickt, entdeckt sie einen schmalen Eisenstachel, der ihre dicke Wollhose durchschlagen und sich seitlich in ihrem Bein verhakt hat. Er ist deutlich kleiner als die Roboterspinnen. Ein paar Schritte schafft Lyda noch, dann knickt ihr Knie ein. Ihr Bein wird taub. Sie stürzt, rollt sich auf den Rücken und sieht die aschgrauen Äste der ausgemergelten Bäume, den schwarzen Himmel – und plötzlich ein Gesicht. Ein ausgeprägtes Kinn, tiefliegende Augen und Nasenlöcher, die wie Kiemen pulsieren.
Lyda betrachtet den Stachel in ihrem Oberschenkel. Um die Wunde ist die Wolle nass von Blut. Sie hätten sie töten können, aber das wollten sie nicht. Lyda erinnert sich an das schwangere Zwergreh, das keuchend vor ihr gekauert hat, mit blutüberströmtem Fell, und immer noch aufstehen wollte, als es bereits gestorben ist. Mutter Hestra hat gesagt, dass Zwergrehe ihre Jungen im Fall eines Angriffs oft vorzeitig zur Welt bringen. Wird Lyda ihr Kind verlieren?
»Nicht«, flüstert sie.
Auf einmal ist sie sehr müde. Träge schweifen ihre Augen in den Himmel ab, ihre Lider schließen sich. Doch sie bekommt noch mit, wie sie aufgehoben und gehalten wird, wie sie eilig davongetragen wird. Sie bringen sie zurück … zurück nach Hause.
PARTRIDGE
Kaputt
Nichts ist, wie es schien. Doch unerklärlicherweise geht es Partridge besser, seit er weiß, dass das Leben, in dem er erwacht ist – das sein eigenes Leben darstellen soll –, eine Lüge ist, die genauso gefälscht ist wie dieses Bauernhaus in Nebraska. Sein Vater liebt ihn nicht. Das ist die brutale Wahrheit. Partridge wusste es schon immer. Normalerweise sollte er Iralenes Behauptung, sein Vater wolle ihn töten, strikt zurückweisen. Normalerweise sollte er allein daraus schließen, dass sie eine Art Nervenzusammenbruch erlitten hat – sie ist verstummt, sie sitzt nur noch an die Wand gelehnt auf dem Boden. Doch tief im Inneren glaubt er ihr.
Sein Vater hat ihn aufgefordert, seine letzten freien Tage zu genießen, bevor er anfängt, ihm seine unglaubliche Macht zu überlassen. Sein Vater wollte noch nie, dass er irgendetwas genießt. Und Macht hat Ellery Willux niemals abgegeben, in seinem ganzen Leben nicht.
Ellery Willux – kaum geht Partridge der volle Name durch den Kopf, dreht sich sein Magen um. »Mein Vater hat deine Mutter kennengelernt, bevor dein Vater ins Gefängnis gekommen ist«, sagt er zu Iralene. »Hat dich das nie misstrauisch gemacht? Hattest du damit nie ein Problem?«
»Soll das heißen, dass dein Vater irgendwas mit der Verurteilung meines Vaters zu tun gehabt haben soll?« Sie schüttelt den Kopf. »Nein! Das darfst du nicht mal denken. Dein Vater war verheiratet , und meine Mutter hätte sich nie, nie, nie mit einem verheirateten Mann eingelassen. Da bin ich mir sicher. Dein Vater ist dein Vater, Partridge, aber meine Mutter ist ein guter Mensch. Sie ist gut, tief drinnen.«
»Okay, okay!« Doch ihm ist klar, dass Iralene nicht dumm ist, dass sie schon tausendmal
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