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Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)

Titel: Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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sieht er Iralene, die ihre Ohnmacht erstaunlich gut überstanden hat. Man hat ihr einen Klappstuhl gebracht; Beckley steht neben ihr, während der Arzt ihr Handgelenk hält und ihren Puls misst. Als Partridge auftaucht, richtet sie sich auf, reißt sich von dem Arzt los und läuft zu ihm.
    Er reicht ihr den Umschlag.
    Mit einer Hand drückt sie den Umschlag ans Herz, die andere legt sie um Partridges Hüfte. »Sei nicht so zu mir, ja? Nie wieder!«
    »Iralene«, flüstert er ihr ins Ohr. »Ich will, dass das Mädchen den Umschlag bekommt. Verstanden?«
    Sie nickt.
    »Ich vertraue dir«, sagt er. »Vertraust du mir?«
    Sie nickt noch einmal. Manchmal vergisst er ganz, wie hübsch sie ist, wie perfekt – und wenn es ihm dann wieder auffällt, selbst unter ihrem dicken, kunstvollen Make-up, erwischt es ihn auf dem falschen Fuß: ihre zierlichen Gesichtszüge, ihr vorwitziges Kinn, ihre weißen, glänzenden Zähne. Sie lächelt ihn an, doch die Trauer in ihren Augen ist nicht zu übersehen. Was auch immer gleich geschieht, es wird alles verändern. Partridge küsst ihre Wange. Überrascht fasst sie sich an die Stelle, die seine Lippen berührt haben.
    Er dreht sich um und geht. Sobald er sich nähert, verziehen sich die Leute aus dem Flur. Ein paar Sekunden später taucht Beckley neben ihm auf. Sie laufen schweigend weiter. Das Machtverhältnis zwischen ihnen hat sich leicht verschoben. Nun hat Beckley ein bisschen Angst vor ihm.
    Er führt Partridge durch die Gänge und bleibt vor einer Tür stehen.
    »Hier drin?«
    Beckley nickt. Ihm ist nicht anzusehen, ob er Partridge hasst oder widerwillig respektiert.
    Partridge öffnet die Tür, Beckley folgt ihm in Ellery Willux’ Zimmer. Neben dem Krankenbett steht ein weiterer Wachmann. »Ich will mit meinem Vater allein sein«, sagt Partridge zu Beckley. »Nimm deinen Kollegen mit.«
    Beckley blickt ihm in die Augen, und eine Sekunde lang sieht es aus, als wollte er ihm widersprechen.
    Doch Partridge hält seinem Blick stand. »Ich will, dass ihr beide an der Tür Wache haltet. Ich sehe meinen Vater nur sehr selten. Wir dürfen nicht gestört werden.«
    »Selbstverständlich«, sagt Beckley nach einer Weile, nickt dem anderen Wachmann zu und verlässt mit ihm das Zimmer.
    Partridge nähert sich dem rechteckigen Plastikzelt um das Krankenbett. Das Zelt scheint zu atmen, zu leben – piepende, summende Geräte, das Schnaufen und Zischen des kleinen Metallkastens, der den Brustkorb seines Vaters umschließt. Das alles kommt Partridge bekannt vor. Er ist nicht zum ersten Mal hier.
    Er muss sich seinem Vater stellen. Aber er wird keinen Mord begehen. Dazu ist er nicht fähig. Und er kann Iralenes Geschichte immer noch nicht glauben, nicht ganz, denn sie ergibt einfach keinen Sinn – warum sollte sein Vater sich die Mühe machen, Partridges Erinnerungen zu löschen, nur um sein Gehirn kurz darauf wegzuwerfen?
    Partridge streift die Seitenwand des Plastikzelts zurück. Die Augen seines Vaters sind geschlossen. Ellerys eigene Haut, die teils blutunterlaufen, teils pechschwarz ist, stößt ihn ab. Seine Hände haben sich nach innen verkrümmt, unters Kinn. Selbst im Schlaf zittert und bibbert er. Die Lähmung hat ihn fest im Griff.
    Und trotz allem treibt Partridge dieser Anblick – der verkümmerte, aufgeplatzte, zerstörte Körper seines Vaters – Tränen in die Augen. Das ist sein Vater. Das ist der Körper seines Vaters. Das ist der Tod. Faulende Haut, als wäre sie von innen her verbrüht, teilweise von schimmernder Plastilin-Gaze bedeckt.
    Blut – ein feiner Blutnebel, der explodiert und die gesamte Luft ausfüllt. Das Blut seiner Mutter. Das Blut seines Bruders. Er erinnert sich an Kameras – keine Kameras wie die Überwachungskameras hier im Krankenzimmer, sondern winzige Linsen in den Augen seiner Schwester. Partridge brüllt, völlig außer sich, bis er endlich innehält und das Gesicht seiner Schwester erblickt, ihre Augen – die Puppe, auch die Puppe sieht er. Und Lyda, die seinen Namen ruft, doch in dieser Erinnerung ist er taub.
    Partridge greift in die Tasche. Die Spitzen seines Zeige- und Mittelfingers stoßen an die Kapsel. In jeder Ecke hängen Kameras, sogar im Inneren des Zelts – doch selbst wenn er unbeobachtet wäre, würde er es nicht tun. Er ist kein Mörder. Das ist der Unterschied zwischen ihm und seinem Vater, ein Unterschied, den er nicht aufgeben darf. Er schüttelt den Kopf. Er wird es nicht tun.
    Die Augen seines Vaters öffnen sich.

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