Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
zahlreicher Länder wurden im Namen der Diplomatie zu einem offenen Dialog der Kulturen zusammengeführt. Soweit Pressia den Text versteht, handelte es sich um eine Abteilung der Besten und Klügsten, die aus den erlesensten Jugendlichen aus aller Welt bestand – kein Wunder, dass auch Pressias japanischer Vater eingeladen wurde. Lev Novikov stammte aus der Ukraine. Auf dem Bild wirkt er ruhelos und gehetzt. Oder kommt es ihr nur so vor, weil sie weiß, dass er schon lange tot ist? Novikov hatte ein hübsches, ernstes Gesicht. Unter dem Papier liegt ein weiterer Zeitungsausschnitt: KADETT WIRD SILBERNER STERN FÜR HELDENHAFTES VERHALTEN VERLIEHEN. Daneben ist das Foto eines anderen jungen Mannes abgedruckt, den Pressia sofort erkennt – obwohl er jünger ist und seine Augen dunkler, lebendiger wirken: KADETT ELLERY WILLUX. Sie überfliegt den Artikel: Willux (19) versuchte, Kadett Novikov bei einem Trainingsunfall zu retten. »Es ist besonders tragisch, da der Junge [Novikov] sich seit Längerem krank gefühlt hatte, aber seit Kurzem auf dem Weg der Besserung war«, sagte Officer Decker. »Deshalb hat er zum ersten Mal in der Saison am Schwimmen teilgenommen.« Noch am Tag der Beerdigung wurde der Orden im Rahmen einer feierlichen Zeremonie verliehen. Als Pressia weiterliest, bleiben ihre Augen an einem Zitat hängen: »Der Anlass ist traurig, aber Heldenmut muss geehrt werden«, so Kadett Walrond.
Walrond. Ist Arthur Walrond gemeint, der Freund der Familie, der Bradwells Eltern überredete, ihm einen Hund zu besorgen – einen Hund namens Art Walrond? War er einer der Besten und Klügsten? Und haben sich Willux und Pressias Eltern bei diesem Trainingseinsatz kennengelernt? Oder hatten sie da schon die Sieben gegründet? Warum hat Bradwell ihr nie von diesen Zeitungsartikeln erzählt?
Sie legt die Ausschnitte auf den Tisch, wie sie sie gefunden hat, und stellt die Glocke obendrauf. Als sie hört, wie sich Fignans Surren nähert, weicht sie zurück. Er hält inne und lässt seine Lichter fröhlich blinken, ehe er ein Wimmern ausstößt. Es klingt richtig traurig. Will er sich entschuldigen?
Pressia legt den Kopf schief und sieht ihn an. »Was willst du von uns?«
Die Blackbox antwortet nicht. Vielleicht ist sie nicht darauf programmiert, etwas zu wollen. Pressia fragt sich, ob Fignan Gefühle wie Sehnsucht oder Furcht begreifen kann.
Bradwell kommt wieder herein. »Redest du etwa mit Fignan? Hab ich doch gesagt, dass man sich mit den Boxes wunderbar unterhalten kann!«
Pressia ist das Ganze peinlich. »Was ist mit El Capitán?«
»Er wartet bei den Trümmerfeldern auf mich. Es geht um ein kleines Mädchen, eine ganz seltsame Geschichte. Und dann war da noch irgendwas mit Spinnen.«
»Und ich soll nicht mitkommen?«
»Da draußen ist es zu gefährlich.«
»Ich komme aber mit. Ich will helfen.«
»Wenn ich das zulasse, bringt Cap mich um.«
»Manchmal frag ich mich, ob ihr mich beschützen wollt oder ob ich eure Gefangene bin.«
»Das weißt du doch. Cap will nur …«
»Wenn ich mich wie eine Gefangene fühle, bin ich auch eine.«
Bradwell steckt die Hände in die Taschen und seufzt.
»Ich bin nicht so zerbrechlich, wie ihr denkt«, behauptet Pressia – aber stimmt das überhaupt? Ist da nicht ein Riss in ihrem Inneren, seit sie abgedrückt hat, seit ihre Mutter tot ist? Ein Riss, der vielleicht nie wirklich heilen wird?
Er hebt den Blick und sieht sie an. »Es ist zu früh.«
»Du übersiehst da was.« Endlich erkennt sie ihre alte Stimme wieder – ihre ruhige, selbstsichere Stimme.
»Was?«
»Dass ich meine eigenen Entscheidungen treffe. Dass du mir nichts zu sagen hast.«
LYDA
U-Bahn-Waggon
Als Kind ist Lyda nie U-Bahn gefahren. Dort wäre sie nur in schlechte Gesellschaft geraten: Revolutionäre, Infizierte, Arme – all jene, die nicht mit Reichtümern gesegnet waren, da Gott sie nicht genug liebte. Filme der Rechtschaffenen Roten Welle zeigten, wie die schlechte Gesellschaft in der U-Bahn aufgemischt wurde. Diese Filme und die dazugehörigen Videospiele hatte ihr Vater sehr gern.
Doch sie hätte nie gedacht, dass es in einem U-Bahn-Waggon so aussieht. Der schiefe Boden ist übersät von Scherben und Schutt, die Fenster sind spinnennetzartig gesplittert. Ansonsten ist der Waggon relativ unversehrt – die orangefarbenen Plastiksitze, die silbernen Stangen zum Festhalten, die Netzpläne und Werbeposter unter rissigem Plexiglas. Eine Laterne hüllt alles in wabernde Schatten, als
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