Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
Die seltsamen Worte aus ihrem Traum erfüllen ihre Gedanken … Sun, she go …
Als ihre Lunge bis zum Platzen gespannt ist, fährt ihr ein Bild in den Geist: ein Gewässer nach den Explosionen, eine halbe Brücke, die im Leeren endet, und darunter eine Brücke aus Leichen. Und ihr Großvater, der ihr erklärt, dass sie nicht auf die andere Seite schwimmen können. Jetzt erinnert sie sich an alles. Sie mussten über die Leichen kriechen – und dabei half kein Zählen. Da brachte es nichts, Verse über juckende Knie und eine flüchtige Sonne aufzusagen. Da konnte man nicht mal die Augen schließen. Pressia musste es ans andere Ufer schaffen, auf Händen und Füßen, über die Leichen. Sie weiß noch, wie die schichtweise gestapelten Toten nachgaben, als sie ihr bescheidenes Gewicht tragen mussten. Die Erinnerung ähnelt dem Traum mit den umgestürzten, lodernden Telefonmasten, die sie zählen musste, mit den gerissenen Stromleitungen, mit dem Körper ohne Kopf, dem Hund ohne Beine, der verbrühten Kuh. Das war kein Traum, nichts davon. Die Leichen im Wasser waren kein Traum. Das sind Erinnerungen, ihre Erinnerungen. Panik macht sich in ihr breit. Der Fluss wird sie verschlingen. Er wird sie nie mehr loslassen. Ihre Lunge brennt vor Schmerz. Sie könnte einfach den Mund öffnen, sich vom Wasser füllen lassen, ertrinken.
Warum nicht? Warum nicht jetzt gleich?
Sie schließt die Augen vor der Dunkelheit und sieht trotzdem nichts als Dunkelheit. Wo ist Bradwell? Ist er schon tot? Wird es ihre Leichen auf dasselbe gläserne Meer hinausziehen?
Auf einmal spürt sie, wie irgendetwas von unten gegen ihren Körper drückt – zwei Hände an ihrem Rücken? Eine weitere Hand zerrt an ihrer Puppenkopffaust. Pressia will sich schon losreißen, als sie plötzlich begreift: Vielleicht wollen sie sie retten. Vielleicht wollen die Hände sie nach oben tragen, zur Luft. Die Geistermädchen. Sie stellt sich vor, wie sich ihr Haar im trägen Wasser auffächert, wie sich ihre Uniformblusen kräuseln.
Endlich durchbricht sie die Oberfläche. Sie saugt die Luft in ihre stechende, verkrampfte Lunge. Ihr Fuß stößt auf Grund. Sie richtet sich mühsam auf, immer noch mitten im strudelnden Wasser, hustet und ringt um Atem.
Irgendjemand schreit ihren Namen. Bradwell. Sie hört, wie er mit klatschenden Schritten auf sie zuläuft und wieder und wieder ihren Namen ruft. Er hebt sie auf und schleppt sie ans Ufer.
Dann lässt er sich auf die Erde fallen, klitschnass. Neben ihm liegen die durchweichten Karten. Auf den Federn der Vögel in seinem Rücken glänzen winzige Tropfen. Seine Brust, seine Arme schimmern.
Pressia muss wieder husten. Ihr Körper hat die Eiseskälte der Fluten gespeichert. Sie fühlt sich schlapp, bleischwer, ausgelaugt. Ihr Hemd und ihre Hose kleben nass und kalt auf der Haut. Sie blinzelt. Über ihr hängt der ausgeblichene Mond, dann taucht daneben Bradwells Gesicht auf, sein schönes Gesicht. Er streicht ihr das feuchte Haar aus der Stirn. »Atmen«, sagt er. »Immer weiteratmen.«
Sie streckt die Hand aus und legt die Finger auf seine kalte, nasse, vernarbte Wange. »Also hab ich dich nicht umgebracht?«
»Nein. Ich dachte, ich hätte dich verloren.«
»Ich dachte, wir wären beide tot.«
»Es war meine Schuld.« Seine feuchten, dunklen Wimpern blinzeln. Wasser tropft von seinem Kinn auf ihren Hals.
»Sie haben mich gerettet«, erklärt Pressia.
»Wer?«
»Die Geistermädchen.« Pressia weiß, dass das völlig verrückt klingt, aber alles ist zu einem einzigen Nebel verschwommen, und warum soll es keine Geistermädchen geben?
Fignan surrt das Ufer hinauf. Seine Lichter huschen über ihre Gesichter. Anscheinend freut er sich, sie zu sehen.
»Alles okay, Fignan«, sagt Bradwell. »Sie lebt.« Er reibt ihr die Arme. »Du hattest recht – das Wasser war zu kalt.«
Pressia zittert. Sie atmet schnell und flach. »Alles okay«, flüstert sie, doch ihre trägen Lippen sperren sich gegen die Worte, und sie spürt Bradwells Hände auf ihren Armen kaum. Als hätte die Gummihaut der Puppenkopffaust auf ihren restlichen Körper übergegriffen, als wären ihre Nervenenden abgestorben.
»Du musst hier weg. Der Wind ist zu kalt.« Er legt ihren Arm um seine Schultern und zieht sie auf die Beine. Doch sie kann die Knie nicht durchdrücken, um ihr Gewicht abzustützen. Schließlich bückt er sich, hebt sie hoch und trägt sie wie ein Kind.
»Es tut mir leid.« Dass ich dir eine Last bin, will sie hinzufügen,
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