Memento - Die Feuerblume: Band 2 (German Edition)
hab mich von dir verabschiedet.«
Partridge bekommt keine Luft mehr. Als hätte man ihm einen Fausthieb auf den Brustkorb verpasst. Er starrt auf die Gefängnisruinen. Über den eingestürzten Stahlträgern schwebt ein dünner Lichtstrahl – Hastings, der sich einen Weg durch die Trümmer sucht. Hastings bleibt stehen, als hätte er gespürt, dass er beobachtet wird, dreht sich um und starrt in Partridges Richtung. Der Lichtstrahl richtet sich auf sein Gesicht, auf seine Brust. Hastings’ Sehkraft wurde massiv gesteigert, er dürfte selbst kleinste Details erkennen. Nun schüttelt er sich das Haar aus dem Gesicht, macht kehrt und stakst über den Schutt zum Haus.
»Hastings ist auf dem Weg.« Partridge dreht sich um und betrachtet Lyda. Im kalten Wind sind ihre Wangen rosa angelaufen, wodurch ihre blauen Augen nur noch blauer wirken. »Was muss ich sagen, damit du doch mitkommst? Verrat’s mir. Ich verspreche dir alles, was du willst.« Hoffentlich muss er jetzt nicht auch noch weinen.
»Die wirst du brauchen.« Sie drückt ihm die Jacke an die Brust. Zuerst will er sie nicht annehmen – als würde sie dann bei ihm bleiben, weil sie ihm die Jacke sonst nicht zurückgeben könnte. Schließlich nimmt er sie doch. Als er ihrem Blick ausweicht, küsst sie ihn auf die Wange.
»Du solltest hier draußen nicht allein sein«, sagt er.
»Die Mütter werden mich holen.«
Partridge hört seinen eigenen Herzschlag – und Hastings’ Schritte im Erdgeschoss. Er greift in die Jackentasche und zieht die Spieluhr heraus. »Hier.« Zuerst rührt Lyda sich nicht mal, doch dann sieht sie ihm in die Augen. »Bitte, nimm.«
Sie nimmt die Spieluhr.
»Ich komme runter!«, ruft er in Richtung Treppe.
»Pass auf dich auf«, bittet sie ihn. »Wer weiß, was dein Vater mit dir vorhat.«
»Ich weiß am besten, dass man ihm nicht trauen kann«, verteidigt Partridge sich.
»Ja. Aber du willst immer noch von ihm geliebt werden.«
Es ist die Wahrheit. Partridge kann ihr nicht mal widersprechen. Er weiß, dass dieser Wunsch seine Achillesferse ist. »Du hast dich verabschiedet, aber ich verabschiede mich nicht«, sagt er. »Wir werden uns finden. Ich bin mir sicher.« Und weil er den Gedanken, von ihr verlassen zu werden, nicht erträgt, ruft er noch einmal nach Hastings und rennt die Treppe hinunter.
PRESSIA
Geistermädchen
Nun wandern sie schon eine Weile am Flussufer durch hohes Schilf. Hin und wieder dringt das Knurren einer Bestie aus den Halmen, und einmal hat Pressia eine dunkle Schnauze gesehen, das flüchtige Schimmern gefletschter Zähne. Angeblich weiß Bradwell, wo das Wasser seicht genug ist, um das andere Ufer zu erreichen, aber noch hat er die Stelle nicht gefunden, und bald wird das Tageslicht schwinden. Der Fluss wirkt tief und schwarz. Flüsse. Hat sie schon mal einen Fluss gesehen? Ist da eine Erinnerung, die wirklich ihr gehört? Sie spürt es fast, aber zugleich fürchtet sie sich davor. Selbst wenn da eine Erinnerung ist – sie weiß nicht, ob sie ausgerechnet diese Erinnerung an die Oberfläche holen will.
Das Schilf, das von einer dünnen Eisschicht überzogen ist, klimpert im kalten Wind. Dicht am Wasser, wo der Boden nicht gefroren ist, saugt der Schlamm an Pressias Stiefeln, als würde sich dort unten etwas Lebendiges verstecken, ein Tentakelwesen. Bradwell hat Fignan unter dem Arm. Die beiden Karten, die inzwischen zerknittert und verdreckt sind, hat er sich in den Gürtel geschoben.
Die Strömung ist schnell. Pressia denkt an die Geistermädchen und singt leise vor sich hin: »Der breite Fluss, die schäumende Strömung, die lockende Strömung, die schäumende Strömung. Wer kann sie vor dieser Welt retten?«
»Der Vorposten war angeblich die Schule, in die die Mädchen aus dem Lied gegangen sind«, erzählt Bradwell.
»Wirklich?«
»Ja. Hier soll es richtig schlimm gewesen sein. Wie überall, wo es Wasser gab, aber das weißt du ja. Swimmingpools, Ententeiche auf Golfplätzen. Und Flüsse wie der da.« Das Schilf klappert. Ein kleines, pelziges Wesen huscht durchs Gras.
Pressia weiß nur, was sie gehört hat. Alle wollten ans Wasser, eine Prozession des Todes – wegen der Feuertornados, die die Welt vorübergehend in einen Glutofen verwandelten. Alles ging in Flammen auf. Nicht nur die Geistermädchen, alle Menschen drängten ins Wasser, bis ihre Körper die Flüsse verstopften. Und dort brannten, bluteten und starben sie. Aber daran erinnert Pressia sich nicht. Überhaupt nicht. Sie
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