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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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hinter ihnen erblickt sie gestapelte Kisten, geschmolzene Spielzeuge, eine Reihe verbogener Briefkästen aus Metall, ein halb geschmolzenes Dreirad.
    Pressia richtet sich auf. Eine Frau fasst sie am Ellbogen und hilft ihr, sich hinzuknien. Die Frau hält ein blondes Kind von vielleicht zwei oder drei Jahren. Ein Arm ist mit dem Kopf des Kindes verschmolzen, in beschützender Haltung. »Das ist Unsere Gute Mutter«, sagt die Frau und deutet nach vorn. »Verneige dich vor ihr.«
    Pressia hebt den Blick und sieht eine Frau, die auf einem einfachen Holzstuhl mit Plastikverstärkungen sitzt. Sie hat ein einfaches Gesicht, klein und zierlich, ein Mosaik aus Glas. Sie wird nur von einer einzigen Lichtquelle getroffen, und die Strahlen lassen das Glas glitzern. Ihre blasse Haut hat die Perlen an ihrem Hals beinahe vollständig überwuchert. Sie sehen aus wie eine Serie perfekt geformter Tumore. Die Frau trägt ein dünnes, beinahe durchscheinendes Hemd. Durch den Stoff hindurch erkennt Pressia die Umrisse eines riesigen Kreuzes, eingebettet in ihrem Magen und der Brust bis hinauf zu ihrem Kehlkopf. Es drückt ihre Schultern zurück und zwingt sie, gerade zu sitzen. Außerdem trägt die Frau einen langen Rock; bewaffnet ist sie mit einem einfachen, schmiedeeisernen Schürhaken, der auf ihren Knien ruht.
    Pressia senkt den Kopf, verneigt sich und verharrt in dieser Haltung, während sie darauf wartet, dass die Gute Mutter ihr schon sagen wird, wann es genug ist. Zu den Füßen der Frau liegen Bradwells Waffen fein säuberlich aufgereiht. Das bedeutet, dass er möglicherweise hier ist. Irgendwie hat er mit dieser Sache zu tun, so viel scheint klar. Bedeutet das, dass er nach ihrem Verschwinden nach ihr gesucht hat? Was ist mit Partridge? Ihr Herz fängt heftig an zu schlagen. Für kurze Zeit durchflutet sie Hoffnung, bis ihr klar wird, dass diese Ansammlung von Waffen bedeutet, dass Bradwell zumindest entwaffnet wurde. Vielleicht sogar getötet.
    Haben die beiden ihr die Halskette dagelassen, als Hinweis? Sind sie tot?
    Die Halskette. Wo ist sie jetzt?
    Pressia ist ganz schwindlig. Blut rauscht in ihren Ohren. Trotzdem rührt sie sich nicht. Sie wartet darauf, dass die Frau mit dem Schürhaken etwas sagt, und schließlich tut sie es auch. »Steh auf.«
    »Du wirst sicher wie alle anderen auch wissen wollen«, fährt sie fort, »warum ausgerechnet ein Kreuz? War ich eine Nonne? Fromm? Verschmolzen im Gebet? Wie ist es geschehen?«
    Pressia schüttelt den Kopf. Ihr Gehirn ist noch längst nicht an diesem Punkt angekommen. Die Frau redet offensichtlich über das Kreuz in ihrer Brust. »Das geht mich nicht das Geringste an«, antwortet sie.
    »Unsere Geschichten sind alles, was wir haben«, sagt die Gute Mutter. »Unsere Geschichten bewahren uns. Wir reichen sie untereinander weiter. Unsere Geschichten haben einen Wert. Verstehst du das?«
    Das erinnert Pressia an ihre erste Begegnung mit Bradwell, an seinen Vortrag bei der Versammlung im Keller, seine Idee von der Bewahrung der Vergangenheit. Bradwell … sie wagt gar nicht daran zu denken, was sie fühlen wird, sollte sich herausstellen, dass er tot ist. Die Gute Mutter sieht Pressia abwartend an. Sie hat Pressia eine Frage gestellt, und Pressia kann sich nicht erinnern, was sie gefragt hat. Sie nickt. Ist es die richtige Antwort?
    »Ich werde dir meine Geschichte zum Geschenk machen. Ich stand an einem Fenster. Metallrahmen«, sagt die Gute Mutter, während sie mit dem Finger über das in das Brustbein geschmolzene Metallkreuz unter dem Stoff ihres Hemdes fährt. »Ich stand dort, das Gesicht der Scheibe zugewandt, eine Hand am Glas, und starrte hinaus auf den erzitternden Himmel.« Sie streckt Pressia die Hand entgegen, übersät mit Glassplittern. »Siehst du meinen nahen Tod in deinen Gedanken?«
    Pressia nickt. Ihre eigene Mutter wurde in einem Regen von Glasscherben getötet. »Die Waffen«, sagt sie und deutet auf den Boden vor der Guten Mutter.
    »Geschenke«, sagt diese. »Geschenke von dem Toten, der uns den Reinen gebracht hat. Der Reine ist ebenfalls ein Toter. Für uns sind alle Männer Tote. Aber das weißt du bestimmt.«
    Bedeutet das, dass sie noch am Leben sind? Oder töten diese Frauen jeden Mann, dem sie begegnen? Ist das der Grund, warum sie Männer »Tote« nennen?
    Hinter Pressia entsteht eine Bewegung. Sie dreht sich um.
    Partridge und Bradwell werden in den Raum gestoßen. Sie sind am Leben. Sie sind hier. Sie atmen noch. Pressia ist so erleichtert, dass

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