Memento - Die Überlebenden (German Edition)
länger ein Reiner zu sein.«
»Ich weiß nicht, was du damit meinst«, sagt Partridge. Pressia denkt an Narben, Verbrennungen, Entstellungen, Verschmelzungen, und dann, im Hinblick auf das Messer, Amputationen.
»Reinheit ist eine Bürde«, sagt die Gute Mutter. »Das haben wir herausgefunden. Wenn du nicht länger ein Reiner bist, wenn du deine Reinheit nicht länger schützen musst, bist du frei.«
Partridge schüttelt heftig den Kopf. »Ich habe nichts gegen diese Bürde.«
»Ich möchte, dass meine Bezahlung zugleich ein Geschenk an dich ist. Ich kann deine Reinheit beenden. Du wirst es nie vollends verstehen, aber ich kann dich zu einem von uns machen, in gewisser Weise.« Sie lächelt ihn an.
Partridge streckt die Hand nach Pressia aus. »Sag ihr, dass das nicht notwendig ist. Uns fällt sicher eine andere Form von Bezahlung ein. Ich bin der Sohn von Willux. Das ist sicher nützlich, oder? Ein direkter Nachkomme?«
»Du bist nicht mehr im Kapitol«, sagt die Gute Mutter.
»Uns fällt sicher etwas anderes ein«, pflichtet Pressia ihm bei.
Unsere Gute Mutter schüttelt den Kopf.
»Worüber genau reden wir hier eigentlich?«, fragt Bradwell leise.
»Ein Symbol, weiter nichts«, sagt die Gute Mutter.
»Was?«, fragt Bradwell. »Einen Finger?«
Pressias Magen zieht sich zu einem Knoten zusammen. Nicht noch mehr Blut, sagt sie sich. Nicht noch mehr Verlust. Nein.
»Ein kleiner Finger«, sagt die Gute Mutter, indem sie den Griff des Messers mit beiden Händen hält. Sie sieht Partridge an. »Die Frauen können dich festhalten.«
Pressia fühlt Panik in sich aufsteigen, als wäre ein Tier in ihr, in ihrem Brustkorb, das tobt und nach draußen will. Sie kann sich gut vorstellen, wie Partridge sich fühlen muss. Er sieht sie verzweifelt an. Bradwell ist der Einzige, der offensichtlich weiß, dass kein Weg um diese Sache herumführt. »Es ist ein Geschenk«, sagt er leise. »Du kommst billig davon. Ein kleiner Finger, mehr nicht.«
»Ich brauche kein Geschenk!«, sagt Partridge. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich habe. Ich bin froh, dass Pressia wieder da ist. Das reicht mir als Geschenk voll und ganz.«
Pressia will die Gute Mutter bitten, etwas von ihr zu nehmen, doch sie weiß, dass dieser Vorschlag die Gute Mutter in Wut versetzen würde. Die Gute Mutter hasst Tote. Sie würde Pressia verachten wegen ihres Aktes der Selbstopferung. Dann denkt Pressia: Sollte er nicht bezahlen? Immerhin ist es seine Mutter. Er ist hergekommen, um sie zu finden – was hat er denn erwartet?
»Sie schicken uns ohne jeden Schutz nach draußen«, sagt Bradwell. »Wir werden deine Mutter niemals finden, weil wir vorher tot sind.«
Partridge ist wie erstarrt. Er ist bleich. Sein Atem geht stoßweise.
Pressia sieht ihn an. Sie sagt ihm die knallharte Wahrheit: »Wir werden sterben.«
Partridge starrt auf seine Hand. Er sieht Bradwell an. Er hat Bradwells und Pressias Leben schon in Gefahr gebracht. Das hier ist das Mindeste, was er tun kann, und er scheint es zu wissen. Er tritt vor die Gute Mutter und legt eine Hand auf den Tisch. »Halt sie fest«, sagt er zu Bradwell. »Damit ich nicht zurückzucke.«
Bradwell packt Partridges Handgelenk so fest, dass Pressia das Weiße von Bradwells Knöcheln hervortreten sieht. Partridge spreizt den kleinen Finger ab und legt die anderen zusammen.
Die Gute Mutter setzt die Spitze der Klinge neben Partridges kleinem Finger auf die Platte, hebt den Griff an und senkt die Klinge in einer einzigen schnellen Bewegung über Partridges kleinem Finger, genau über dem zweiten Gelenk. Das Geräusch – ein leises Poppen – lässt Pressia nach Luft ringen.
Partridge schreit nicht. Dazu geht es zu schnell. Er starrt auf seine Hand, das hervorsprudelnde Blut, seinen abgeschnittenen Finger auf dem Tisch. Der Stummel muss für einen Moment taub sein, denn Partridges Gesicht ist leer. Dann verzerrt es sich, als der Schmerz einsetzt. Er starrt hinauf zur Decke.
Die Gute Mutter reicht Bradwell einen Lappen und ein Lederband. »Hier. Binde die Wunde fest zu. Und halte sie hoch.«
Bradwell verbindet Partridges Finger. Partridge hält die verwundete Hand mit der anderen Hand fest, dann drückt er sie an seine Brust. Der blutige Verband sieht aus wie ein Bouquet, denkt Pressia. Rote Rosen wie die in Bradwells alten Zeitschriften.
Die Gute Mutter nimmt den abgeschnittenen kleinen Finger und hält ihn wie einen Schatz in der hohlen Hand. »Bringt ihn zurück in euren Raum«, sagt sie zu den
Weitere Kostenlose Bücher