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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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Sie fragt sich, ob ihr Geruchssinn möglicherweise schärfer geworden ist, weil ihre Sicht und ihr Hörvermögen gelitten haben. Der Geruch von Verwesung liegt schwer über der Landschaft. Sie denkt an die gekochten Eier, die Austern bei Ingerships Dinner, und wieder steigt Übelkeit in ihr auf. Hastig schließt sie die Augen, um dem Gefühl zu begegnen.
    Mit geschlossenen Augen taucht in ihrem Kopf ein Bild von Bradwell und Partridge beim Essen an einer großen Tafel auf. Solche Sachen sind möglich, jetzt, wo sie Ingerships Farmhaus gesehen hat, aber eigentlich nicht wirklich, niemals für die beiden. Sie stellt sich Bradwells Gesicht vor. Seine Augen, seinen Mund. Er sieht sie an. Will gerade etwas sagen.
    Sie öffnet die Augen. Es dämmert. Im Osten erscheint das erste fahle Licht am Horizont.
    Sie hört ein leises Zischen – bewegt sich der Sand? Wenn ein Dust auftaucht, muss sie ihn töten. Sie hat gar keine Wahl. Ist es verkehrt, etwas umzubringen, das dich umbringen will?
    In ihrer vernebelten Sicht bemerkt sie Teile zerfetzter Räder, das Skelett eines tiefbraun verrosteten Lieferwagens und weit in der Ferne, als der Wind für einen Moment erstirbt und die Asche sich senkt, das Gewirr von Trümmern, wo der Horizont auf den grauen Himmel trifft. Irgendwo da draußen ist das Farmhaus mit Ingership und seiner in einen Ganzkörperstrumpf gehüllten Frau.
    Sie sucht nach El Capitáns Gestalt, wartet ungeduldig darauf, dass sie aus der Ruinenlandschaft auftaucht. Ihre Puppenkopffaust, geschwärzt von Ruß und Asche, starrt sie erwartungsvoll an, als wollte sie etwas von ihr. Als sie kleiner war, hat sie mit dem Puppenkopf geredet, und sie war sicher, dass der Kopf sie verstand. Niemand ist jetzt da, der den Kopf sehen könnte, nicht mal das Kapitol, das gnädige Auge Gottes. Gott ist Gott. Sie versucht sich die Krypta vorzustellen, die wunderschöne Statue hinter dem gesprungenen Plexiglas. »Heilige Wi«, flüstert sie, als wäre es der Anfang eines Gebets. Für was will sie überhaupt beten? Sie versucht, an eine der Geschichten ihres Großvaters zu denken. Nicht an den erschossenen Jungen. Nicht an den Fahrer, der von Dusts gefressen wurde, nicht einmal an die Dusts, die vielleicht kommen, um sie zu fressen.
    Und dann ist sie da, die Geschichte. Ihr Großvater hat ihr einmal von einem italienischen Festival erzählt, das jedes Jahr um die gleiche Zeit gefeiert wurde. Es gab Fahrgeschäfte mit Teetassen, die so groß waren, dass man darin sitzen konnte, und Spiele, die man spielen konnte und vielleicht einen Goldfisch in einer Plastiktüte voll Wasser gewinnen. Der Fisch sah viel größer aus, wie er in dem von Plastik umhüllten Wasser schwamm, zuerst größer und dann kleiner und schließlich wieder größer.
    Unter dem Druck des Windes wirbelt Sand vom Boden auf, irgendwie merkwürdig, und Pressia wird nervös. Instinktiv blinzelt sie, versucht klar zu sehen, doch das macht es nur noch schlimmer. Das Wirbeln und der Wind scheinen miteinander zu ringen. Und dann erblickt Pressia ein Augenpaar. Der Aufschrei bleibt ihr in der Kehle stecken. Sie drückt den Knopf auf dem Türgriff, um die Scheibe herunterzulassen. Nichts passiert. Sie muss zuerst den Wagen starten. Sie packt den Zündschlüssel. Dreht ihn zurück und wieder vor. Es gibt ein paar hohle Klicks, das ist alles. Sie hält den Schlüssel fest, und dann erwacht der Motor mit dunklem Grollen zum Leben, und alles erzittert unter seiner Energie. Der Staub wirbelt immer noch und kocht. Pressia drückt auf den Knopf. Die Scheibe gleitet in die Tür. Der Aschewind weht ins Wageninnere. Sie hebt die Waffe und spannt den Hahn. Ihre Hände zittern. Sie zögert, dann versucht sie zu zielen.
    Der Dust lässt sich fallen. Ist verschwunden, aber nicht weit weg.
    Pressia ist wie erstarrt. Asche wirbelt in den Wagen. Pressia ist entschlossen zu schießen, doch sie hat noch nie zuvor ein Gewehr abgefeuert. Sie ist kein Offizier. Sie ist nur ein sechzehn Jahre altes Mädchen. Selbst wenn sie dem Kapitol geben könnte, was sie von ihr wollen – was würde aus Partridge werden? Was aus El Capitán und Helmud? Und ihrem Großvater? Sie denkt an das Bild von ihm im Krankenzimmer, sein Lächeln, die verschwommenen Flügel des Ventilators in seiner Kehle. War in seinen Augen ein Anflug von Sorge oder nicht? Hat er versucht, sie zu warnen?
    Was passiert hier in dieser Welt, wenn du nicht länger nützlich bist? Sie kennt die Antwort auf diese Frage sehr genau.
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