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Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Memento - Die Überlebenden (German Edition)

Titel: Memento - Die Überlebenden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julianna Baggott
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herum wie ein vom Blitz gefällter Baum, gleich neben den Skeletten zweier vollkommen ausgeschlachteter Autowracks. An der Ecke entdeckt er die Kirchturmspitze, von der Bradwell gesprochen hat. Die Kirche ist eingestürzt und die Turmspitze in die Trümmer gekracht. Sie ragt jetzt hinaus, zur Seite geneigt, deutet nicht mehr gen Himmel wie das Kreuz auf dem Kapitol.
    »Da wären wir«, sagt Bradwell gleichmütig. »Lombard Street.« Partridge ist ziemlich sicher, dass er etwas wie Freude oder gar Selbstgefälligkeit heraushört.
    Eine Brise wirbelt Asche und Staub auf, doch Partridge verzichtet darauf, sein Gesicht zu bedecken. Er geht ein paar Schritte die Straße hinunter. Lässt den Blick über die Trümmer schweifen. Was hofft er zu finden? Irgendwelche Überreste aus der Vergangenheit? Den Staubsauger? Das Telefon? Irgendeinen Hinweis auf Häuslichkeit? Seine Mutter auf einem Liegestuhl beim Lesen eines Buches, mit frischer Limonade für ihn?
    Pressia berührt seinen Arm. »Tut mir leid.«
    Er sieht sie an. »Ich suche die zehn-vierundfünfzig Lombard Street«, sagt er und wiederholt wie ein Roboter: »Zehn-vierundfünfzig.«
    »Machst du Witze?« Bradwell lacht. »Es gibt keine zehn-vierundfünfzig Lombard Street! Es gibt überhaupt keine Lombard Street mehr. Sie ist weg, siehst du das nicht?«
    »Ich suche die zehn-vierundfünfzig Lombard Street«, beharrt Partridge. »Du verstehst das nicht!«
    »Ich verstehe das sehr gut«, widerspricht Bradwell. »Du kommst hierher, in diese ausgebombte Stadt, mischst dich unter alle die Unglückseligen und meinst, du hättest ein Recht darauf, deine Mutter zu finden, einfach so. Du glaubst, es wäre dein Recht und stünde dir zu, weil du gelitten hast für wie lange? Eine Viertelstunde?«
    Partridge hält seinem Blick stand, doch sein Atem geht schwer. »Ich werde weitersuchen«, sagt er. »Bis ich zehn-vierundfünfzig Lombard Street gefunden habe. Deswegen bin ich schließlich hergekommen.« Er geht die dunkle Straße hinunter.
    »Bradwell«, hört er Pressia hinter sich sagen.
    »Hörst du das?«, entgegnet Bradwell. Die Gesänge des Kesseltreibens sind immer noch zu hören. Partridge weiß nicht, wie weit weg oder wie nah sie sind. Die Stimmen scheinen durch die gesamte Stadt zu hallen. »Du hast nicht viel Zeit.« Es muss kurz vor Anbruch der Morgendämmerung sein.
    Pressia holt Partridge ein.
    Er bleibt stehen. Er hat ein Haus entdeckt, von dem das Erdgeschoss noch steht. Planen wurden über die alten Fenster gespannt. Er hört leises Singen.
    »Wir müssen uns beeilen«, sagt Pressia zu ihm.
    »Da ist jemand drin«, sagt er.
    »Ehrlich – wir haben nicht viel Zeit.«
    Er nimmt den Rucksack von den Schultern, öffnet ihn und zieht einen Plastikbeutel mit einem Foto hervor.
    »Was ist das?«, will Pressia wissen.
    »Ein Bild von meiner Mutter«, antwortet Partridge. »Ich will wissen, ob die Leute in dem Haus sich an sie erinnern.« Er geht zur Tür, die nicht länger eine Tür ist, sondern ein Loch mit einer großen Platte aus Schalholz, die von innen dagegengesetzt wurde.
    »Lass es«, sagt Pressia. »Du weißt doch überhaupt nicht, was das für Leute sind dadrin!«
    »Ich muss«, sagt er.
    Sie schüttelt den Kopf. »Dann wickle dich wenigstens in deinen Schal.«
    Er tut wie geheißen und zieht die Kapuze über, bis nur noch die Augen zu sehen sind.
    Das Singen ist unterdessen lauter geworden, eine schrille, hohe Stimme, die eine schräge Melodie mehr flötet oder trällert als singt.
    Partridge klopft gegen die Schalholzplatte.
    Das Singen verstummt. Ein Klappern ist zu hören, wie von Pfannen. Dann Stille.
    »Hallo?«, ruft Partridge laut. »Tut mir leid, wenn ich störe, aber ich habe eine Frage.«
    Keine Antwort.
    »Ich hatte gehofft, hier vielleicht Hilfe zu finden«, sagt er.
    »Komm schon«, drängt Pressia. »Lass uns verschwinden!«
    »Nein!«, widerspricht er, obwohl der Sprechgesang des Kesseltreibens von Minute zu Minute näher kommt. »Geh du, wenn du willst. Das hier ist alles, was ich habe. Meine einzige Chance.«
    »Na schön«, sagt Pressia. »Aber beeil dich.«
    »Ich suche jemanden«, ruft er gegen die Schalholzplatte. Wieder Stille. Partridge sieht zu Bradwell, der mit den Fingern schnippt und ihnen bedeutet, sich zu beeilen. Partridge versucht es noch mal. »Ich brauche wirklich Hilfe!«, sagt er. »Es ist wichtig. Ich suche meine Mutter.«
    Aus dem Innern ertönt ein weiteres Klappern, dann antwortet eine sehr alte Stimme: »Nenn deinen

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