Memento - Die Überlebenden (German Edition)
erstarrten Wachspfützen alter Kerzen, Tropfen, die an der Wand heruntergeflossen sind und sich auf dem Steinboden gesammelt haben. Pressias Blick gleitet erneut zu der Statue der jungen Frau. Das Mädchen sitzt auf seinem eigenen Sarg, der sie an ihren Schrank erinnert, in dem sie schläft oder zumindest geschlafen hat. Ob sie ihren Großvater und den Friseurladen jemals wiedersehen wird? Wartet er immer noch auf ihre Rückkehr, den Ziegelstein auf dem Schoß?
Die Schritte schwellen zu einem lauten Donnern an. Die Decke erzittert. Gips, lockere Steinchen, Putzbrocken fallen zu Boden. Plötzlich hat Pressia Angst, die Decke könnte einstürzen. Alle drei heben schützend die Arme über die Köpfe. Partridge hat das Foto seiner Mutter in die Plastikhülle zurückgelegt. Sie liegt auf seinem Rucksack, den er auf dem Schoß hält.
»Wir werden lebendig begraben!«, ruft Pressia.
»Wäre eine ziemliche Ironie«, entgegnet Bradwell. »Lebendig begraben in einer Krypta?«
»Nicht lustig«, sagt sie.
»Sollte auch nicht lustig sein«, antwortet er.
»Ich würde lieber nicht sterben«, sagt Partridge. »Nicht jetzt, wo ich weiß, dass meine Mutter überlebt hat …«
Pressia hebt überrascht den Blick und starrt ihn durch den Schauer von herabregnendem Dreck an. Glaubt er das wirklich? Wie kann er so sicher sein? Die alte Frau hat doch nur gesagt, dass irgendjemand seiner Mutter das Herz gebrochen hätte. Pressia kann mit den Worten nichts anfangen. Für einen Moment hält sie die Luft an, wünscht sich, die stampfenden Schritte würden aufhören, doch das tun sie nicht. Sie umfasst ihre Knie und kneift die Augen zu.
Plötzlich werden draußen Jubelrufe laut. Kampfrufe, Siegesgeheul.
»Sie haben wen erwischt«, sagt Pressia.
»Gut«, sagt Bradwell. »Das wird sie beschäftigen. Sie ziehen weiter und bringen die Leiche zum Feld.«
»Gut?«, fragt Partridge. »Wie kann so was gut sein?«
»Gut bedeutet nicht das, was du meinst«, erwidert Bradwell.
Die Sprechgesänge entfernen sich, werden bald leiser.
Pressia starrt auf den steinernen Sarg. »Liegt da etwa ein Toter drin?«, fragt sie.
»Das ist ein Sarkophag«, sagt Bradwell.
»Ein was?«, fragt Partridge.
»Ein Sarkophag«, wiederholt Bradwell. »Mit anderen Worten: Ja. Es liegt jemand drin, oder zumindest Teile von jemandem.«
»Wir sind in einem Grab, oder?«, fragt Partridge.
Bradwell nickt. »In einer Krypta.«
Partridge hält noch immer das Foto in der Plastikhülle fest.
Pressia streckt die Hand danach aus. »Darf ich es sehen?«
Er reicht es ihr.
»Was denn?«, entrüstet sich Bradwell. »Ich darf es nicht sehen, aber sie darf?«
Partridge grinst und zuckt die Schultern. Das Bild zeigt einen kleinen Jungen von vielleicht acht Jahren – Partridge – an einem Strand. In der einen Hand hält er einen Eimer, die andere hält die Hand seiner Mutter. Es ist windig, und das Meer um ihre Knöchel ist schaumig. Die Mutter ist wunderschön – leicht sommersprossig mit einem hinreißenden Lächeln. Die alte Frau hat recht – er sieht ihr tatsächlich ähnlich, denkt Pressia. Das gleiche strahlende Gesicht. Mütter, denkt sie. Sie werden mir immer fremd bleiben – ein Land, das ich niemals sehen werde. »Wie heißt sie?«
»Aribelle Willux. Geborene Cording.«
Sie will Partridge die Hülle mit dem Bild zurückgeben, doch er schüttelt den Kopf. »Bradwell kann es sich auch ansehen.«
»Ich?«, fragt Bradwell. »Ich dachte, ich wäre nicht gut genug?«
»Vielleicht siehst du was auf dem Bild, das ich nicht sehe.«
»Zum Beispiel?«
»Irgendeinen Hinweis«, sagt Partridge.
Pressia gibt Bradwell das Foto, und er betrachtet es eingehend.
»Ich erinnere mich an diese Reise«, beginnt Partridge zu erzählen. »Wir waren allein, meine Mutter und ich. Meine Großmutter hatte ihr ein Haus am Meer vererbt. Es war ziemlich kalt, und wir wurden beide krank. Eine Magen-Darm-Grippe. Sie machte Tee für uns beide, und ich spuckte in einen Eimer neben dem Bett.« Er kramt in seinem Rucksack und zieht den Beutel mit den Habseligkeiten seiner Mutter hervor. »Hier«, sagt er. »Vielleicht findet ihr irgendwas, wenn ihr euch diese Sachen anseht. Ich weiß nicht … vielleicht, wenn ihr die Geburtstagskarte lest. Außerdem ist da eine Spieluhr und eine Halskette.«
Bradwell gibt Partridge das Foto zurück, nimmt den Beutel und späht hinein. Er zieht die Spieluhr hervor, klappt sie auf, und eine leise Melodie erklingt. »Das Lied kenne ich nicht«, sagt
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