Memento - Die Überlebenden (German Edition)
springt er. Pressia folgt ihm. Ihre Holzschuhe klappern laut über den Beton. Partridge bildet den Abschluss. Unten ist es dunkel und feucht. Es gibt so viele Pfützen, dass sie keine Chance haben, allen auszuweichen. Sie müssen mitten hindurch, ob sie wollen oder nicht. In unregelmäßigen Abständen hören sie Tiere, leises Quieken und Gurren. Schatten huschen vorbei.
»Jetzt sag mal, warum sind wir hier unten?«, will Partridge wissen.
»Du hast den Sprechgesang gehört, oder?«, fragt Bradwell.
»Ja.« Er kann ihn immer noch hören. »Was ist so verkehrt an einer Hochzeit?«
Bradwell bleibt stehen, dreht sich um und starrt ihn verblüfft an. »Eine Hochzeit?«
Partridge sieht zu Pressia. »Du hast gesagt …«
»Kann sein, dass ich ihm erzählt habe, es wären Gesänge von einer Hochzeit«, räumt Pressia gegenüber Bradwell ein.
»Warum hast du wegen so einem Mist gelogen?«, fragt Bradwell verwirrt.
»Ich weiß nicht. Vielleicht wollte ich, dass es die Wahrheit ist. Vielleicht bin ich ja eine von der Sorte.« Sie wendet sich an Partridge. »Es ist keine Hochzeit«, sagt sie. »Es ist eine Art Spiel. Was die OSR unter Sport versteht.«
»Oh«, sagt Partridge. »Das ist doch nicht schlimm. Wir machen im Kapitol auch Sport. Ich war Läufer bei so was Ähnlichem wie Football.«
»Das hier ist ein Jagdsport. Ein Kesseltreiben. Die OSR betreibt ihn unter dem Vorwand, die Schwachen der Gesellschaft auslöschen zu müssen. Es ist die einzige Sportart, die es hier bei uns gibt. Wenn man es Sport nennen kann«, sagt Bradwell und geht wieder los. »Sie kriegen Punkte für das Töten von Menschen.«
»Es ist besser, wir gehen ihnen aus dem Weg«, sagt Pressia zu Partridge, um dann – sie weiß nicht warum, vielleicht nur wegen des Eindrucks – hinzuzufügen: »Du wärst volle zehn Punkte wert.«
»Nur zehn?«, fragt Partridge.
»Genau genommen sind zehn Punkte ein Kompliment«, sagt Bradwell über die Schulter nach hinten.
»In diesem Fall – danke«, sagt Partridge. »Vielen herzlichen Dank.«
»Wer weiß, was sie mit dir anstellen würden, wenn sie rausfinden, dass du ein Reiner bist«, sagt Pressia.
Eine Weile gehen sie schweigend weiter. Partridge denkt an das, was Bradwell im Kühlhaus gesagt hat. Und weg bist du. Einfach so. Niemand in eurem Kapitol schert sich darum? Niemand macht sich auf die Suche nach dir? Sie suchen nach ihm, keine Frage. Sie werden die Jungs verhören, mit denen er sich in letzter Zeit unterhalten hat, einschließlich der Lehrer, jeden, dem er sich möglicherweise anvertraut haben könnte. Lyda. Er fragt sich, was sie mit ihr gemacht haben.
Es ist feucht hier unten. Die Pfützen stinken. Die Luft ist abgestanden und steht. Partridge beschwert sich nicht, doch er ist überrascht, wie sehr der unterirdische Marsch an seinen Nerven zerrt und wie erleichtert er ist, als Bradwell endlich stehen bleibt und sagt: »Lombard Street. Müsste gleich hier über uns sein. Bist du bereit?«
»Absolut«, sagt Partridge.
»Warte«, warnt ihn Pressia. »Erwarte nicht zu viel.«
Sieht er so naiv aus? »Keine Sorge, okay?«
»Ich will nur nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst.« Sie sieht ihn auf eine Weise an, die er nicht zu entziffern vermag. Hat sie etwa Mitleid mit ihm? Ist sie am Ende sauer? Oder gar fürsorglich?
»Ich mache mir keine falschen Hoffnungen«, sagt er. Das ist eine Lüge – er will etwas finden, wenn nicht seine Mutter, dann irgendetwas, das ihn zu ihr führt. Sollte er nichts finden, weiß er nicht, wie er von hier aus weitermachen soll. Dann wäre seine Flucht aus dem Kapitol völlig sinnlos gewesen, und es gibt keinen Weg zurück. Bradwell hat gesagt, er soll zurückgehen ins Kapitol und zu seinem Vater. Aber das ist vermutlich unmöglich. Könnte er zurückkehren zu Glassings und seinen Vorlesungen über Weltgeschichte? Könnte er sich mit Lyda treffen, mit dem Laserstift auf dem Gras zwischen den Schlafgebäuden Dates ausmachen? Oder würden sie unter Narkose seine Persönlichkeit grundlegend verändern? Würde er – wieder mal – Nadelkissen spielen? Würden sie ihn verwanzen? Oder ihm sogar einen Ticker einpflanzen?
Der Ausstieg hat zwar eine alte rostige Leiter, doch Partridge springt hoch und packt die Umrandung, um sich nach draußen zu ziehen wie bei seiner Flucht durch die Tunnel des Kapitols. Es kommt ihm vor, als sei das Jahre her.
Oben hat es einmal eine Reihe Häuser gegeben, die alle eingestürzt sind. Eine Straßenlaterne liegt
Weitere Kostenlose Bücher