Memento - Die Überlebenden (German Edition)
bedeuten würde«, antwortet Bradwell. »Ihr Zuhause liegt genau vor uns. Es ist nicht mehr weit.« Allmählich gewöhnt sich Partridge an Bradwell. Mit seiner Antwort meint er sinngemäß: »Halt die Klappe und hör auf, mich mit Fragen zu löchern.«
Die Gasse ist schmal. Es riecht nach Tieren und Moder. Die Behausungen sind in die Trümmer der früheren Gebäude gesetzt. Einige sind kaum mehr als ein paar Bretter, gegen eine Wand gelehnt.
»Hier ist es«, sagt Bradwell. Er geht zu einem Fenster, das aussieht, als wäre es erst vor Kurzem eingeschlagen worden. Im Rahmen stecken noch Glasscherben. Sie sehen in einen kleinen Raum mit einem Tisch, einem umgeworfenen Sessel, einem Bündel Kleidung auf dem Fußboden, das vielleicht ein Bett darstellen soll. Die Rückwand besteht aus Schränken, die Türen sind alle weit aufgerissen. Auf einer Tür sieht er ein Schild: Nur für Personal. »Was für ein Laden war das?«, fragt er.
»Ein Friseurladen, aber er ist zerstört. Das Büro im Hinterzimmer ist alles, was noch übrig ist.«
Partridge bemerkt einen Vogelkäfig auf dem Boden. Die Gitterstäbe auf einer Seite sind verbogen. An der Decke über dem Käfig ist ein Haken.
»Sieht verlassen aus«, sagt er.
»Das ist nicht gut«, sagt Bradwell. Er geht zur Tür und klopft vorsichtig. Die Tür steht einen Spaltbreit offen. Bradwells Klopfen lässt sie weiter aufschwingen.
»Hallo?«, ruft Partridge. »Jemand da?«
»Sie haben ihn mitgenommen«, sagt Bradwell. Er geht im Raum umher, sieht in die Schränke, geht zum Tisch. Er bemerkt etwas an der Wand, tritt näher.
»Vielleicht ist er nur unterwegs«, sagt Partridge und gesellt sich zu Bradwell.
Bradwell antwortet nicht. Er starrt auf ein Bild, das mit ungleichmäßigen Leisten aus Holz gerahmt an der Wand hängt. »Menschen mit Sonnenbrillen in einem Kino?«, fragt Partridge, nimmt das Bild vom Haken und betrachtet es genauer.
»3-D-Brillen«, sagt Bradwell. »Sie mochte dieses Bild sehr. Ich hab keine Ahnung warum.«
»War das das Geschenk, das du ihr gemacht hast?«
Bradwell nickt. Er wirkt erschüttert.
Partridge dreht das Bild um, und auf der Rückseite findet er ein weiteres Blatt Papier. Es ist durchzogen von Faltspuren und grau von Asche. Er kann den Text darauf kaum entziffern: Wir wissen, dass ihr hier seid, Brüder und Schwestern. Eines Tages werden wir aus dem Kapitol treten, um uns in Frieden mit euch zu vereinen. Bis dahin jedoch beobachten wir euch aus der Ferne, voller Gnade. Er sieht Bradwell an.
»Das ist die Botschaft«, sagt Bradwell mit einem Blick auf das kleine Blatt. »Ein Original.«
Partridge spürt eine Gänsehaut auf den Armen. Sein Vater hat das Okay für die Botschaft gegeben. Sie war Teil des Plans, von Anfang an. Brüder und Schwestern. Er hängt das Bild wieder an den Haken. Sein Magen rebelliert.
»Sie haben ihn mitgenommen«, sagt Bradwell und geht zum Fenstersims. Der Boden ist übersät mit Glassplittern und kleinen Stückchen Draht und Metall, manche mit Stoff verkleidet. Bradwell hebt etwas auf und hält es in der Hand.
»Was ist das?«, will Partridge wissen.
»Eins von Pressias Tierchen«, sagt Bradwell. »Sie macht sie selbst. Ihr Großvater hat mir welche davon gezeigt. Er war stolz auf sie.«
Jetzt erkennt Partridge, dass es ein Schmetterling ist. Mit grauen Flügeln und einem kleinen Aufziehwerk aus Draht auf den Rippen.
»Sie hat sie benutzt, um damit auf dem Markt zu handeln. Ihr Großvater hat vielleicht versucht, sie zu retten. Es gab einen Kampf.« Er hat recht. Partridge kann sich die Szene vorstellen, mit dem geborstenen Fenster, dem umgekippten Sessel, dem Käfig, der vom Haken gerissen wurde. »Das ist der einzige Schmetterling, der noch übrig ist.«
Partridge geht zu dem verbeulten Vogelkäfig. Er hebt ihn an dem kleinen Ring an der Spitze hoch und befestigt ihn wieder am Haken.
»Was immer in diesem Käfig war, es ist weg«, sagt Bradwell.
»Vielleicht ist es besser so«, sagt Partridge. »Frei, nicht mehr gefangen.«
»Meinst du?«, entgegnet Bradwell.
Partridge ist nicht sicher, was besser ist in dieser Welt – frei zu sein oder in einem Käfig zu sitzen. Es ist eine Frage, die er eigentlich beantworten können müsste. Wünscht sich ein Teil von ihm zurück ins Kapitol?
LYDA
Finger
Lyda steht da und starrt durch das Fenster in der Tür hinaus auf den Gang. Was sonst kann sie hier tun? Auf ihrer Sitzmatte sitzen? Es ist eine Mischung aus allen Farben geworden, ein unglaubliches
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