Memento - Die Überlebenden (German Edition)
noch nicht begegnet?«
»Nein«, antwortet Bradwell. »Ich kenne die Gerüchte, das ist alles.«
»Gerüchte?«
»Ja. Sie ist unsere einzige Chance«, sagt Bradwell. »Das heißt, wenn ihre Beschützer uns nicht vorher umbringen.«
»Ihre Beschützer könnten uns umbringen?«
»Es wären keine Beschützer, wenn sie sie nicht beschützen würden.«
»Verdammt«, flucht Partridge. »Du schleppst mich wegen irgendwelcher Gerüchte hier raus?«
Bradwell wirbelt zu ihm herum. »Damit wir uns richtig verstehen«, sagt er. »Du hast mich hier rausgeschickt, auf die Suche nach Pressia, die du auch aus ihrer Deckung geholt hast!«
»Tut mir leid«, sagt Partridge.
Bradwell geht weiter. »Es sind eigentlich keine Gerüchte. Eher ein Mythos. Hast du eine bessere Idee?«
Er weiß, dass Partridge keine bessere Idee hat. Er ist fremd in dieser Welt. Er hat gar nichts.
Manchmal kommt Partridge das alles so unwirklich vor, wie eine szenische Wiederaufführung der Katastrophe und nicht die Katastrophe selbst. Er erinnert sich an einen Klassenausflug in ein Museum. Dort gab es in den verschiedenen Abteilungen Miniatur-Displays mit Schauspielern dazu, die erzählten, wie es vor der »Rückkehr des Anstands« zuging. Jede Darstellung war einem Thema gewidmet: Vor dem Bau des außerordentlichen Gefängnissystems; vor der flächendeckenden medikamentösen Versorgung schwererziehbarer Kinder und Jugendlicher; bevor der Feminismus die Weiblichkeit förderte; als die Medien der Regierung noch feindselig gegenüberstanden, anstatt gemeinsam mit ihr auf ein übergeordnetes Wohl hinzuarbeiten; bevor Menschen mit gefährlichen Ideen rechtzeitig identifiziert werden konnten; als die Regierung noch um Erlaubnis fragen musste, um ihre treuen Bürger vor dem Übel der Welt und den Kriminellen zu beschützen; bevor die Tore rings um die Wohnsiedlungen elektronisch abgeriegelt wurden und freundliche Wachposten jeden mit Namen kannten.
Tagsüber hatte es auf dem weitläufigen Rasen des Museums auch Nachstellungen der Straßenschlachten gegeben, die im Zuge der Proteste gegen die »Rückkehr des Anstands« und die entsprechende Gesetzgebung aufkamen. Mit dem Militär im Rücken konnte die Regierung Aufstände – meist politische Demonstrationen, die in Gewalt umschlugen – ganz einfach niederschlagen. Die Hausmiliz der Regierung – die Rechtschaffene Rote Welle – kam dazu, um die Lage zu retten. Der aufgezeichnete Lärm war ohrenbetäubend, Uzis und Angriffsignale kamen aus den Lautsprechern. Die Kids in Partridges Klasse kauften im Souvenirshop Megafone, ziemlich echt aussehende Handgranaten und Aufbügelembleme der Rechtschaffenen Roten Welle. Partridge hatte sich einen Sticker gewünscht mit der Aufschrift: RÜCKKEHR DES ANSTANDS – DIE BESTE FORM DER FREIHEIT über einer wehenden amerikanischen Flagge, mit der Unterzeile BLEIB WACHSAM, doch seine Mutter hatte ihm kein Geld für den Souvenirladen gegeben, kein Wunder.
Heute weiß Partridge, dass das Museum nichts als Propaganda war. Trotzdem, er könnte für einen Moment so tun, als seien die Meltlands genau das – ein Museum, aufgebaut mit größtmöglicher Authentizität. »Weißt du, wie es hier vor dem Bombardement war?«, fragt er Bradwell.
»Ich habe eine Zeit lang hier gewohnt, bei meiner Tante und meinem Onkel.«
Partridge, dessen Mutter sich geweigert hatte, die Stadt zu verlassen, hatte hier nur mal seine Freunde besucht. Er erinnert sich an das Geräusch der Tore – das leise elektrische Summen, die knirschenden Zahnräder, die lauten metallischen Schläge. Und obwohl die Häuser in den geschlossenen Wohnanlagen dicht an dicht gestanden hatten, jedes mit einem winzigen Fleckchen Rasen, überzogen von einem samtigen, chemischen Glanz, hatten sie einsam und trostlos ausgesehen. »Hast du noch Bilder davon im Kopf?«, fragt er Bradwell.
»Keine, die ich haben will.«
»Warst du hier, als es zu Ende ging?«
»Ich war unterwegs«, sagt Bradwell. »Ich war eins von den Kindern, die immer rumstreunen und nie da sind, wo sie sein sollen.«
»Die meisten Kinder durften nicht raus, mussten weg aus den Augen der Öffentlichkeit«, sagt Partridge. »Ich weiß jedenfalls, dass es bei mir so war.« Kinder redeten. Man konnte ihnen nicht vertrauen, und sie wiederholten die Worte ihrer Eltern wie Papageien. »Wenn dich jemand fragt, was ich von irgendetwas halte«, hatte Partridges Mutter zu ihm gesagt, »dann sag, dass du es nicht weißt.« Sie hatte ihn nie
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