Memento - Die Überlebenden (German Edition)
nie aufgefallen, dass die Melodie und das Alphabet den gleichen Rhythmus haben.
A, B, C, D, E, F, G. Buchstaben – Sprache.
Sie steht auf. Die verbliebenen Plastikstreifen fallen achtlos zu Boden. Sie rennt zum Fenster, und dort ist die Rothaarige, wartet auf Lyda.
Lyda drückt ihre Finger an die Scheibe. Sie geht das Alphabet im Rhythmus des Liedes durch, bis ihr Finger auf H landet. Dann erneut, und sie stoppt bei I.
Hi.
Die Rothaarige lächelt, und diesmal winkt sie.
Es wird dunkel. Lyda sieht kaum noch etwas. Sie malt ein Fragezeichen auf ihre Scheibe. Was will die Rothaarige ihr so dringend erzählen? Was ist es?
Die andere fängt an zu buchstabieren. Es dauert lange, und jedes Mal, wenn Lyda einen Buchstaben verstanden hat, nickt sie und flüstert ihn leise, um sich zu erinnern, wo in einem Wort sie gerade steckt. Am Ende eines jeden Wortes malt die Rothaarige einen schrägen Strich über die Scheibe.
W-i-r/s-i-n-d/v-i-e-l-e, schreibt sie.
W-i-r/w-e-r-d-e-n …
Eine Wache wandert über den Gang. Beide Mädchen verschwinden von den Fenstern. Lyda legt sich ins Bett und tut, als schliefe sie. Wir werden was?, fragt sie sich. Was?
Sie lauscht den Schritten der Wache, die sich wieder entfernen, und kehrt ans Fenster zurück. Die Rothaarige ist nicht da. Nach einigen Sekunden jedoch erscheint sie wieder.
Sie schreibt: Ü-b-e-r-
Überwinden?, fragt sich Lyda. Will sie ihre Gefangenschaft überwinden? Ist es eine Botschaft der Hoffnung für all jene, die hier eingesperrt sind und sich verloren fühlen?
Nein. Die Botschaft der Rothaarigen geht weiter. Sie schreibt: … w-ä-l-t-i-g-e-n.
Wir werden überwältigen? Wen will sie überwältigen?
Lyda tippt ihre Antwort, so schnell sie kann, W-a-c-h-e-n. Sie schreibt ein weiteres Fragezeichen auf die Scheibe.
Die Rothaarige starrt sie aus ihrem ausdruckslosen Gesicht an, dann schüttelt sie vehement den Kopf. Nein, nein, nein.
Lyda schreibt ein weiteres Fragezeichen auf die Scheibe. Wen? Sie muss die Antwort wissen.
Es ist beinahe dunkel in ihrer Zelle. Lyda kann die Finger der Rothaarigen kaum noch erkennen. Die Rothaarige tippt.
K-a-p-i-t-o-l.
Lyda starrt sie an. Sie versteht nicht, was das bedeuten soll. Sie legt ihren Finger auf die Scheibe und schreibt ein weiteres Fragezeichen.
S-a-g/e-s/i-h-m, antwortet die Rothaarige.
PARTRIDGE
Pfeile
Die Gefängnisse, Sanatorien, Anstalten sind alle zusammengefallen, ein Koloss nach dem anderen, wie ausgebrannte Haufen schmiedeeiserner Knochen, und die Häuser in den abgeschirmten Gemeinden sind verkohlt oder ganz verschwunden. Die Klettergerüste und Piratenschiffe und Minischlösser aus Plastik haben sich als dauerhafter erwiesen. Sie überziehen das dem Erdboden gleichgemachte Gelände aus Staub und Asche wie große undefinierte bunte Klumpen – wie Skulpturen, von denen Partridge im Kunstgeschichteunterricht Bilder gesehen hat.
Eine »Installation«, so hat Mr Welch es genannt. Und auf eine seltsame Art erfreuen sie Partridge jetzt. Er stellt sich Welch vor, der ihn an eine verschrumpelte Ausgabe von Glassings erinnert, wie er dozierend im bunten Licht des Projektors steht mit seiner schmächtigen Gestalt, der eingesunkenen Brust, der glänzenden Glatze. Er war einer der Preisrichter, die Lydas Vogel ausgewählt haben. Lyda … Partridge wird sie wohl niemals wiedersehen, genauso wenig wie Welch oder Glassings oder den Vogel. Und Pressia?
Bradwell geht vor Partridge her, die Hand auf dem Griff des Messers in der Jacke. Partridge hat einen Fleischerhaken und ein Schlachtermesser von Bradwell sowie das alte Messer aus der Ausstellung, mit dem er sich durch die Filter gehackt hat, doch er fühlt sich trotzdem verwundbar hier draußen und ein wenig unsicher in seinen Bewegungen. Die Codierungen greifen allmählich. Manchmal spürt er den Ansturm, wenn sie sich in seine Muskeln und Knochen drängen und durch seine Synapsen feuern. Es ist ein Gefühl, das er nicht beschreiben kann – ein Dickerwerden des Blutes, das durch seinen Körper kreist, wie etwas Fremdes, das Besitz von ihm ergreift. Wegen der blauen Pillen, die seine Mutter ihm am Strand gegeben hat, war er immun gegen die Verhaltenscodierung, doch der Rest schwimmt weiterhin in seiner Hirnflüssigkeit. Kann er seinem eigenen Kopf vertrauen? Gegenwärtig fühlt er sich benommen, alles ist undeutlich und verschwommen. »Wie ist eigentlich diese vertrauenswürdige Person?«, fragt er.
»Schwer zu sagen«, antwortet Bradwell.
»Bist du ihr
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