Memento - Die Überlebenden (German Edition)
bevor sie den Abzug drückt, wird ihr bewusst, dass sie das Gewehr nur ein Stück weit anheben und nach rechts schwenken muss, um El Capitán und seinen Bruder zu töten. Wenn sie nur diesen einen Schuss hat, dann ist es das, was sie damit tun sollte. Sie weiß es so, wie sie die wirklich wichtigen Dinge in ihrem Leben immer gewusst hat. Sie könnte schießen und fliehen.
Pressia kneift das linke Auge zu und zielt. Sie zielt auf den Kopf des Jungen. Dann atmet sie ruhig ein, genau wie El Capitán es gesagt hat, lässt den Atemzug halb entweichen … doch sie drückt nicht ab.
»Ich kann ihn nicht töten«, sagt sie.
»Warum nicht? Er ist direkt vor dir.«
»Ich bin keine Mörderin«, sagt sie. »Vielleicht können wir ihn zurücktragen, und jemand kann ihm helfen. Ihr habt doch Ärzte, oder?«
»So funktioniert das Spiel aber nicht«, sagt El Capitán.
»Wenn du jemanden umbringen musst für dein Spiel, dann nimm mich. Ich kann ihn nicht töten. Ich kann einfach nicht. Er hat mir nichts getan.«
El Capitán nimmt sein eigenes Gewehr von der Schulter und klemmt es sich unter den Arm. Für einen Moment denkt Pressia, dass er ihr Angebot annimmt. Dass er sie erschießen wird. Ihr Herz hämmert, erstickt sämtliche anderen Geräusche um sie herum. Sie schließt die Augen.
Dann zischt der einbeinige Junge am Boden zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch: »Tu es!«
Pressia öffnet die Augen. El Capitán zielt mit seinem Gewehr auf den Jungen. Sie überlegt, El Capitán wegzustoßen, ihn zu attackieren – als wenn sie das könnte. Aber der Junge will sterben. Sein Blick ist flehend. Er hat El Capitán angebettelt, es zu tun. Und so beobachtet Pressia, wie sich El Capitáns Brustkorb einmal hebt und senkt, und wie er den Abzug betätigt.
Der Kopf des Jungen wird nach hinten gerissen. Sein Gesicht ist verschwunden. Sein Körper erschlafft.
Und Pressia fängt wieder an zu atmen.
PARTRIDGE
Käfig
Der Weg in die Meltlands führt durch die zerstörte Stadt, und Pressias Zuhause liegt nicht weit ab vom Weg.
»Ich will nach ihrem Großvater sehen«, sagt Bradwell. »Ich weiß, wo sie wohnt.«
Partridge ist völlig vermummt; von seiner Haut ist nichts zu sehen. Bradwell hat ihm außerdem geraten, die Schultern nach vorn zu ziehen, als hätte er einen Buckel, und beim Gehen ein Bein nachzuziehen. Normalerweise würden sie sich an Seitenstraßen halten oder unteridisch laufen, doch dafür ist jetzt keine Zeit.
Sie bahnen sich ihren Weg durch die belebte Marktzeile – je mehr Menschen und Gewimmel, desto einfacher ist es, darin unterzutauchen, hat Bradwell erklärt. Zu beiden Seiten sind Leute, die halbe Roboter sind. Partridge sieht freiliegende Zahnräder und Drähte und Haut, die mit Glas und Plastik verschmolzen ist. Er bemerkt einen Handrücken, der aus einer alten Coladose besteht, eine Brust aus dem weißen emaillierten Metall einer Haushaltsmaschine – einer Waschmaschine? Hier ein Schädel mit einem birnenförmigen Auswuchs an der Seite, Haut, die einen Kopfhörer mit einem Ohr verschmilzt. Er sieht eine Hand mit einem darin eingelassenen Tastenfeld. Ein anderer benutzt einen Stock, weil er ein totes Bein vor sich herrollt. Manchmal ist es so wenig wie Pelz auf einem Unterarm oder eine verkrüppelte Hand, klein wie eine Pfote.
Was ihn jedoch am meisten überrascht, sind die Kinder. Es gibt nicht viele Kinder im Kapitol. Große Familien werden nicht gerne gesehen, und manche Paare dürfen überhaupt keine Kinder bekommen, wenn es Probleme mit ihren genetischen Anlagen gibt.
»Hör auf zu gaffen!«, zischt Bradwell ihm zu.
»Ich bin es nur nicht gewohnt, so viele Kinder zu sehen«, flüstert Partridge zurück.
»Sie verbrauchen zu viele von euren Ressourcen, hab ich recht?«
»Es klingt wie was Schlechtes, wenn du das sagt.«
»Sieh einfach geradeaus, okay?«
»Das ist schwerer, als du glaubst.«
Sie gehen ein Stück weiter. »Woher weißt du, wo Pressia wohnt? Bist du öfter bei ihr?«, fragt Partridge in dem Versuch sich abzulenken.
»Ich bin ihr eine Woche vor ihrem Geburtstag begegnet und hab später noch ein Geschenk vorbeigebracht.«
Partridge fragt sich, was hier wohl als Geschenk gelten mag. Er will auch sehen, wo Pressia lebt. Gleichzeitig fühlt er sich schuldig wegen seines Verlangens, ein Gefühl für das Alltagsleben zu bekommen wie ein Tourist, doch er kann es nicht leugnen. Er will sehen, wie das Leben hier läuft. »Was hast du ihr geschenkt?«
»Nichts, das dir irgendwas
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