Memento - Die Überlebenden (German Edition)
Durcheinander. Sie hat sie unter die Decke geschoben, weil sie den Anblick nicht erträgt.
Das falsche Fenster an der Wand leuchtet im Licht des Spätnachmittags. Es flackert, als würden Blätter davor das Sonnenlicht sprenkeln. Ist es in jeder Zelle das gleiche Bild? Etwas an diesem Fenster erweckt in ihr das Gefühl, gnadenlos manipuliert zu werden. Abgeschnitten von jeglicher Realität hat es den Anschein, als würde die Anstalt selbst die Sonne kontrollieren. Und das, obwohl selbst im Kapitol die Sonne als Maß für Tag und Nacht dient. Ohne sie fühlt sie sich noch verlassener und einsamer.
Pressias Zelle liegt am Ende des Gangs. Durch das kleine Fenster in ihrer Tür hat sie einen Ausblick auf die anderen kleinen Fenster in den Türen rechts und links. Alle Fenster sind jetzt leer. Einige der Mädchen sind möglicherweise in Therapiesitzungen, andere wurden zu einer gemeinsamen Mahlzeit abgeholt. Wieder andere liegen auf ihren Pritschen oder gehen in ihren Zellen auf und ab und denken über ihre eigenen falschen Fenster nach.
Dann plötzlich erscheint jemand am Fenster, den Gang hinunter, und sieht hinaus. Es ist die Rothaarige. Ihr Gesicht ist blass und weich. Ihre Augenbrauen sind so hell, dass sie kaum zu sehen sind. Es verleiht ihr einen leeren Gesichtsausdruck. Sie starrt Lyda aus sorgenvollen Augen an, derselbe seltsam erwartungsvolle Blick wie im Arbeitsraum.
Lyda hat Gewissensbisse, weil sie ihr gesagt hat, sie solle den Mund halten. Das Mädchen hat schließlich nur vor sich hin gesummt, versucht, die Zeit totzuschlagen. Was war so schlimm daran? Sie beschließt, sich um Wiedergutmachung zu bemühen, und hebt das Gesicht. Winkt.
Die Rothaarige hebt ebenfalls die Hand, doch dann drückt sie die Finger auf die Scheibe. Beginnend mit dem kleinen hebt und senkt sie jeden Finger, einen nach dem anderen, in einem bestimmten Rhythmus. Sie ist verrückt, denkt Lyda, doch weil es sonst nichts zu sehen gibt, beobachtet sie das Mädchen weiter. Kleiner Finger, Ringfinger, Pause. Mittelfinger, Zeigefinger, Pause. Dann in schnellerer Folge Daumen, kleiner Finger, Ringfinger. Mittel, Zeige, Pause. Daumen, kleiner, Pause. Dann wieder, schnell, Ring, Mittel, Zeige, Daumen, kleiner. Dann in Dreiergruppen Ring, Mittel, Zeige, Pause, Daumen, kleiner, Ring, Pause, Mittel, Zeige, Daumen, Pause, kleiner, Ring, Mittel. Dann begreift Lyda, dass es ein Lied ist. Doch es sind nicht die Noten auf einem Klavier, die die Rothaarige spielt, es ist lediglich ein Rhythmus.
Und Lyda weiß auch, welches Lied sie meint. Dieses furchtbare, grauenvolle, ohrgängige, verrückt machende »Morgen kommt der Weihnachtsmann«. Angewidert wendet sie sich vom Fenster ab und rutscht mit dem Rücken an der Wand hinunter, bis sie auf dem Boden sitzt.
Was, wenn ihr Leben für immer so weitergeht? Was, wenn es niemals eine Anweisung gibt, sie zu verlegen? Sie blickt zu dem falschen Fenster hoch. Ist es dunkler geworden? Hat die Abenddämmerung eingesetzt? Wird sie eines Tages die winzigsten Veränderungen der falschen Sonne erkennen, vom frühen Morgen bis zum Anbruch der Nacht?
Sie kriecht zu ihrer Matratze und zieht die selbst geknüpfte Sitzmatte unter der Decke hervor. Sie reißt die Plastikstreifen auseinander. Sie wird sie neu verknüpfen. Etwas Hübscheres daraus machen. Auseinandernehmen und neu knüpfen. Das wird sie beschäftigen, die Ruhelosigkeit dämpfen. Sie sortiert die Streifen nach Farben und versucht, über ein Muster nachzudenken, das ihr gefallen könnte. Am liebsten würde sie eine Botschaft in die Matte knüpfen. Rettet mich! , würde sie schreiben. Ich bin nicht verrückt! Holt mich hier raus!
Doch wer würde diese Botschaft zu Gesicht bekommen? Sie müsste sie ans Fenster halten und hoffen, dass eines der anderen Mädchen sie liest. Das ist der Moment, in dem sie wieder an die Rothaarige denkt. Was, wenn sie gar nicht verrückt ist? Was, wenn ihr Lied eine Botschaft ist?
Sie geht in Gedanken den Text durch – Morgen kommt der Weihnachtsmann, kommt mit seinen Gaben, Trommel, Pfeife und Gewehr – während sie sich daranmacht, die Plastikstreifen zu flechten, blau, purpur, rot, grün, und ein Karomuster macht. Das Lied ist in ihrem Kopf und bedeutungslos. Steckt einfach fest. Wiederholt sich, wortlos, und dann, während sich ihre Finger hin- und herbewegen, einen Rhythmus bilden, kehren die Worte des Liedes zurück. Doch es ist nicht der Text von »Morgen kommt der Weihnachtsmann«. Es ist das Alphabet. Ihr ist noch
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