Memo von Meena (German Edition)
mittlerweile drei Stunden saß er auf dem Sofa seines Arbeitszimmers, mit dem Diktiergerät und einem ausgefransten Notizblock neben den ausgestreckten Beinen. Sein Kopf war wie leergefegt. Seine Motivation, nach einem Thema für seine vierte Kolumne zu suchen, bewegte sich Richtung Null, stattdessen versuchte er, die aufkeimenden Gefühle zu unterdrücken. Warum war die Tatsache, dass er herausgefunden hatte, wer der Vater ihres Kindes war, derart zermürbend? Warum gelang es ihm nicht, dieses Wissen zu ignorieren und wie gewohnt in den Schreiballtag überzugehen? Im Grunde war es ja noch nicht mal eine Überraschung. Immerhin hatte er schon vermutet, dass Meena im Laufe der Jahre sicher hier und da auch mal ein Date oder auch mehr mit einem Kollegen gehabt hatte. Sie war eine Frau. Eine interessante Frau. Eine attraktive Frau. Eine … Er zwang sich zur Disziplin. Es ist ein Job, Oliver. Nur ein Job!
Er griff erneut in die Tüte, auch wenn er bereits beim ersten Versuch festgestellt hatte, dass sich die Konsistenz von Krabbenchips höchstens einen Tag nach dem Öffnen zum Verzerr eignete. Wie salzige Plastikfiguren bogen sie sich unter seinen Zähnen, während er sich daran erinnerte, dass er dringend seinen Kühlschrank auffüllen musste.
Sein Blick wanderte zu einer der aufgeschlagenen Zeitschriften auf dem Tisch. Ihr Foto über der Kolumne schaffte es noch immer, ihm mindestens eine Minute seiner Aufmerksamkeit abzuverlangen. Ihre Augen, die ihm auch jetzt noch, da ihm das Foto bereits vertraut war, ganz besonders groß erschienen und in ihrer Farbe dem blassblauen Himmel über dem Meer ähnelten, trafen ihn bis ins Innerste. Er hatte sich verrannt. Hoffnungslos verrannt in einen Gedanken, der an Absurdität nicht zu überbieten war. Nur was half ihm das Wissen um diesen Umstand, wenn er doch nicht in der Lage war, ihn zu ändern?
Der aufgeklappte Laptop neben der Zeitschrift gab einen einsilbigen Piepton von sich. Das Signal für eine neue Mail. Dankbar für ein wenig Ablenkung setzte er sich an den Tisch und öffnete die Nachricht, doch schon wenige Sekunden nach dem Öffnen wurde ihm klar, dass sie ihm alles andere als Ablenkung bescheren würde.
16. Mai 2012, 14:32 Uhr
Von: Meena Teske
An: Oliver Staude
Lieber Oliver,
mit der Entscheidung, diese Mail zu schreiben, habe ich auch beschlossen, endlich das alberne Siezen abzustellen.
Du wirst dich wundern, dass ich mich auf diese Weise melde und überhaupt: dass ich meine Mutter dazu überreden konnte, mir meinen Laptop zu bringen, grenzt noch immer an ein Wunder. Trotzdem kann ich gewisse Worte nicht im Raum stehen lassen. Worte, die du mir – als eigentlich vollkommen Fremder – an den Kopf geworfen hast. Worte, die ich eigentlich ignorieren müsste und die ich doch nicht unkommentiert lassen kann.
Ja, Oliver, du hast recht: Es gibt weit tiefgründigere Themen, über die ich schreiben, weit tiefere Schubladen, in denen ich graben könnte – und ja, vielleicht schreibe ich tatsächlich unter meinem Niveau. Aber all diese Dinge sind unwichtig, denn wenn ich über andere Dinge schreiben möchte, kann ich dies nicht beim Ariella’s Choice tun. Wir sind ein Frauenmagazin, Oliver. Ein sehr leichtfüßiges noch dazu. Keine unserer Leserinnen möchte über die Veränderung der Welt nachdenken, wenn sie unsere Zeitschrift aufschlägt. Und das müssen sie auch nicht. Ich passe meine Spielweise lediglich dem Feld an, auf dem ich spiele. Und genau das ist, was man auch von dir erwartet. Also bitte tu mir den Gefallen und denk über Äußerungen dieser Art in Zukunt vorher nach.
Meena
*
Sie ärgerte sich darüber, dass sie die Mail erst nach dem Abschicken erneut durchgelesen hatte. Zukunt statt Zukunft? Da wollte sie ihn vom eigenen Können überzeugen und war noch nicht mal in der Lage, eine fehlerfreie Mail zu verfassen.
Beruhige dich, Meena, du bist nicht in der Schule. Es ist eine Mail, nur eine Mail. Und er ist deine Vertretung, nur deine Vertretung. Ein Tritt in ihrem Bauch erinnerte sie an den Grund für die Vertretung. Warum hatte sie diese Zeilen verfasst? Bis zur Geburt waren es keine fünf Wochen mehr, da sollten Fragen zur Einrichtung des Kinderzimmers und künftigen Erziehung ihres Sohnes weit wichtiger sein als der Gedanke an einen taktlosen Ghostwriter.
Trotzdem gelang es ihr nicht, seine Worte aus ihrem Gedächtnis zu streichen. Sie kannte die SMS inzwischen auswendig.
Ich denke einfach, dass Sie mehr
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