Memoiren 1902 - 1945
nächtlichen Rendezvous zuvorkommen. Zielke fühlte sich für die Sitte und Moral des Lagers verantwortlich. Dabei ging er so weit, ehe er sich hinlegte, seinen mit Platzpatronen gefüllten Revolver neben sich ans Bett zu legen. Wenn sich ein Schatten bewegte und er glaubte, es könnte ein Mädchen sein, das möglicherweise zum Toilettenhäuschen ging, hatte er Schreckschüsse abgegeben. Die Mädchen waren sehr verängstigt und froh, als sie von unserem Kommen hörten.
Als ich Zielke zur Rede stellte, schaute er mich treuherzig an und sagte: «Leni, erinnerst du dich nicht, du hast mir doch gesagt, ich soll aufpassen, wenn neben jungen hübschen Mädchen auch Männer in einem Zeltlager leben, damit wir nicht ins Gerede kommen. Deshalb glaubte ich, so deinem Wunsch gerecht zu werden.» Was sollte ich antworten - ich durfte Zielke nicht die Freude an seiner Arbeit nehmen.
Die Aufnahmen mit den Mädchen waren schon beendet, wir hat
ten jetzt noch die mit den Männern vor uns, und vor allem die reichlich komplizierte Trickaufnahme, in deren Verlauf sich der Diskuswerfer von Myron in eine lebende Gestalt verwandelt. Zielke hatte alles gut vorbereitet: Hinter einer Glasscheibe stand in der Haltung der klassischen Statue Erwin Huber, der deutsche Zehnkampfmeister, der fast zentimetergenau die gleichen Körpermaße hatte. Auf das Glas war mit schwarzer Farbe der Umriß des Diskuswerfers gemalt; durch geschickte Beleuchtung, aus Tages- und Kunstlicht gemischt, erreichte Zielke die für diese Aufnahmen vorgesehene Stimmung.
Eine andere wichtige Szene konnten wir hier in idealer Weise stellen - das Entzünden des Olympischen Feuers auf einem antiken Säulenstumpf, wozu wir in Griechenland keine Gelegenheit gehabt hatten. Auf der Kuppe eines Sandhügels hatte der Filmarchitekt einen dorischen Tempel so naturgetreu nachgebaut, daß man ihn für echt hätte halten können. So gelangen hier mit Anatol, der mit uns gekommen war, bessere Aufnahmen als in Olympia. Das schräg einfallende Sonnenlicht, das es in südlichen Ländern nicht gibt, schuf eine Atmosphäre, die nicht idealer hätte sein können.
Die Arbeiten waren bald beendet, das Lager wurde abgebrochen.
Die Archivierung
A ls in der Kopieranstalt Geyer das letzte Material abgeliefert wurde, registrierten wir die endgültige Ziffer des belichteten Films: Über
400 000 Meter. Nun mußte der Film geschnitten, vertont und kommentiert werden - eine gewaltige Arbeit lag vor uns.
Die Archivierung des Materials war bei seiner Menge ein besonderes Problem. Das Tempo, mit dem bei sportlichen Wettkämpfen gearbeitet werden muß, läßt den Kameraleuten, anders als beim Spielfilm, nicht die Zeit, um vor jeder Aufnahme die Nummerntafel mitzufilmen. Wie sollten wir die einzelnen Szenen ohne Nummern sortieren? Es mußte eine Methode gefunden werden, nach der man innerhalb kürzester Zeit die gewünschte Aufnahme herausfinden konnte.
Meine Lösung sah so aus: Jede Sportart bekam eine Komplexnummer, so daß wir zusammen mit dem Prolog, der Eröffnungs- und Schlußfeier 150 Komplexe hatten, oft bis zu 100 Nummern unterteilt. Beim Bereich «Publikum», das die Komplexnummer 10 hatte, las sich das dann so: 1a Publikum in Sonne, 1b Publikum im Schatten, 1c Publikum klatscht, 1d Publikum enttäuscht und so fort. Außerdem waren die Publikumsaufnahmen auch nach den verschiede
nen Nationen und Kampfstätten zu unterteilen. So war es möglich, jede gewünschte Szene rasch zu finden.
Zur weiteren Erleichterung einer übersichtlichen Archivierung führte ich ein Farbsystem ein, das sich als zweckmäßig und zeitsparend erwies: In orangefarbene Schachteln kam das ungeschnittene Material, Kürzungen in grüne, Reserven in blaue und der Ausschuß in schwarze Schachteln, während Tonmaterial in gelben aufbewahrt wurde. In «Rot» kamen die fertig geschnittenen Musterrollen. Die Archivierung nahm einen Monat in Anspruch, die Besichtigung, bei täglich zehn Stunden Vorführzeit, zwei Monate.
Auch das Sortieren des Negativmaterials war eine ungemein schwierige Aufgabe, da Tausende von Metern keine Fußnummern hatten. Das sind die kleinen Zahlen, die sich am unteren Rand des Negativs befinden. Alle 33 Zentimeter, die ungefähre Länge eines Fußes, gibt es eine fortlaufende Nummer, daher die branchenübliche Bezeichnung «Fußnummer», die es ermöglicht, jedes Bild schnellstens im Original zu finden. Fehlen sie, was leider früher oftmals vorkam, dann ist das
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