Memoiren 1902 - 1945
Ähnlich wie im Weitsprung beim Duell zwischen Lutz Long und Jesse Owens, kam es auch hier zu einem Duell zwischen den als unschlagbar geltenden drei Finnen und dem kleinen zähen, wie ein Löwe kämpfenden Japaner Murakoso. Ihm gelang das Unglaubliche, an den drei Finnen vorbeizuziehen und sie hinter sich zu lassen, angefeuert von seinen japanischen Landsleuten. Er mußte aber schließlich doch den starken Finnen den Sieg überlassen. Dennoch hatte sich Murakoso die Herzen der Zuschauer erobert.
Strahlende Sonne lag über dem Stadion, als sich die Läufer am Start zum Marathonlauf versammelten, der klassischsten Disziplin der Olympischen Spiele. Zwölf Kameraleute waren für die 42. Kilometer lange Strecke eingesetzt. Zabala, Argentinien, der Sieger von Los Angeles, wollte ein zweites Mal gewinnen, aber Japan war ein gefährlicher Gegner. Nan war der Favorit, aber auch Son, der zweite Japaner, war stark, ebenso die Finnen.
Die Dramatik dieses Laufes, den die Kameraleute mit einem Auto begleiteten, habe ich erst am Schneidetisch erlebt. Das Material war so hervorragend gelungen, daß der Marathonlauf einer der Höhepunkte des Olympiafilms wurde. Ein ergreifender Anblick war die Siegerehrung der Japaner, wie sie ihre mit Lorbeerkränzen geschmückten Köpfe senken und, in fast religiöser Hingabe versunken, ihre Nationalhymne hören.
Glenn Morris
I ch befand mich im Innenraum des Stadions. Der Zehnkampf war im Gang. Deutschlands Meister, Erwin Huber, ein guter Freund, hatte mir schon bei meinen Vorbereitungen geholfen und mir Verbindungen mit Sportlern verschafft. Im Prolog des Films sollte er den Diskuswerfer von Myron darstellen. Heute wollte er mich mit den drei führenden Amerikanern im Zehnkampf bekanntmachen. Es war der zweite Tag des Zehnkampfes, an dem der Amerikaner Clark vor seinem Landsmann Glenn Morris führte. Huber war auf dem vierten Platz.
Glenn Morris lag, mit einem Handtuch über dem Kopf, entspannt auf dem Rasen, um Kraft für die nächste Disziplin zu schöpfen. Als Huber mir Morris vorstellte und wir uns ansahen, konnten sich unsere Blicke kaum mehr voneinander lösen. Ein unglaublicher Augenblick, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Ich versuchte, die in mir aufsteigenden Gefühle zu unterdrücken und zu vergessen, was gesche hen war. Ich ging Morris von nun an aus dem Weg. Wir haben höchstens ein Dutzend Worte miteinander gewechselt. Und doch hatte diese Begegnung mich tief getroffen.
Glenn Morris gewann den Zehnkampf und stellte damit einen neuen Weltrekord auf. Es war schon ziemlich dunkel, als die drei siegreichen Amerikaner auf dem Podium standen und ihre Medaillen erhielten. Das schwache Licht ließ es nicht zu, die Siegerehrung zu filmen. Als Glenn Morris die Stufen herunterstieg, kam er auf mich zu. Ich reichte ihm die Hand und beglückwünschte ihn. Da nahm er mich in den Arm, riß mir die Bluse herunter und küßte mich auf die Brust, mitten im Stadion, vor hunderttausend Zuschauern. Ein Wahnsinniger, dachte ich, befreite mich von ihm und rannte davon. Aber der wilde Blick, mit dem er mich ansah, verfolgte mich. Nie mehr wollte ich mit ihm sprechen, nie mehr mich in seine Nähe begeben. Doch dann wurde es wegen des Stabhochsprungs unvermeidlich.
Die Sprungkonkurrenz wurde zum vielleicht dramatischsten Ereignis dieser Spiele. Schon am Vormittag begann das Springen, und am Abend rangen noch immer fünf Springer in erbittertem Kampf zwischen Amerika und Japan um den Sieg. Zwei kleine, fast zarte Japaner kämpften verbissen gegen drei bärenstarke Amerikaner. Es wurde immer dunkler, es wurde schon kalt. Die Springer hüllten sich in Wolldecken, und die Zuschauer verfolgten gebannt dieses dramatische Schauspiel. Nach fünf Stunden fiel die Entscheidung. Earle Meadows, ein junger Amerikaner, siegte vor den beiden Japanern Nishida und Oe.
Die große Verliererin dieses Abends aber war ich. Denn ich hatte keine Aufnahmen von diesem fantastischen Ereignis. Es war zu dunkel gewesen. Da gab es nur eine Chance, am nächsten Tag diesen nächtlichen Stabhochsprung bei Scheinwerferlicht zu wiederholen. Würden aber die Springer auch mitmachen? Das war nach diesem höllisch anstrengenden Tag und den vorangegangenen Wochen voller Entsagungen unwahrscheinlich.
Erwin Huber, unser Zehnkämpfer, meinte: «Was die Amerikaner angeht, könnte nur Glenn Morris helfen.»
Er sprach mit ihm, und Morris war bereit, seine Kameraden zu überreden. Aber sie hatten das
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