Memoiren 1902 - 1945
Eltern, mit Hertha an einem Sommertanzkurs der Jutta-Klamt-Schule am Bodensee teilzunehmen. Man stelle sich vor, unsere erste gemeinsame Reise allein, ohne Eltern! Große Aufregung und Freude. Unsere Eltern brachten uns zur Bahn. Außer vielen Ratschlägen erhielten wir genügend Taschengeld der Tageswährung und die Rückfahrkarten III. Klasse Lindau/Berlin.
Wir waren selig und konnten unser Glück kaum fassen. Aber unser Freudenrausch endete am Bahnhof in Ulm. Dort wurde uns von einer unbekannten Dame die Nachricht übergeben, daß der Tanzkurs infolge einer Erkrankung von Frau Klamt abgesagt werden mußte; leider hätten wir nicht mehr rechtzeitig verständigt werden können.
Unsere so schwer errungene Freiheit wollten wir aber nicht aufgeben. So fuhren wir, zwar etwas beklommen, aber doch bester Stimmung, nach Lindau weiter, wo wir uns bei einem Professor ein nettes Zimmer nahmen. Wir hofften, unsere Eltern würden von dem ab
gesagten Tanzkurs nichts erfahren.
Wir genossen die Freiheit, die herrliche Bodenseelandschaft mit den damals noch leeren Badeufern - es war wunderbar.
Eines Abends lockte uns ein Plakat, das einen Zauberer von internationalem Rang ankündigte. In dem großen Saal, in dem er auftrat, saßen schon fast tausend Menschen. Die Vorstellung war ausverkauft. Ich liebte Circus und Zauberkunststücke und saß mit Hertha in einer der vorderen Reihen. In der ersten Hälfte des Programms sollten nur Zauberkunststücke vorgeführt werden, denen nach der Pause Experimente mit Hypnose folgen würden.
Der Zaubermeister, der einen athletisch gewachsenen Schwarzen als Assistenten dabei hatte, schien sehr geschickt zu sein. Er zauberte aus einem Zylinder das Übliche hervor - Blumen, Tücher, Tauben, Hühner-, so toll hatte ich das noch nie gesehen. Ich glaube, niemand wäre hinter seine Tricks gekommen. Das Publikum und wir waren begeistert.
Was dann aber im zweiten Teil des Abends geschah, war im Programm nicht vorgesehen. Der Meister trat vor die Bühne und forderte das Publikum auf, die Arme über den Kopf zu strecken, die Hände zu schließen, die Außenflächen der Hände nach oben zu drehen und so eine Weile zu verharren. Dann sprach er etwas Unverständliches, machte einige Armbewegungen und rief laut in den Saal: «Versuchen Sie nun, die Hände auseinanderzuziehen - einige von Ihnen werden die Hände nicht mehr trennen können. Diese Personen sind für die hypnotischen Experimente geeignet, und nur sie möchten auf die Bühne kommen.»
Hertha und ich sahen uns an. Ich vermutete sofort einen Schwindel. Es war mir ein Leichtes, die Hände auseinanderzunehmen, aber ich wollte gern auf die Bühne, um mehr zu erfahren. Deshalb tat ich so, als könnte ich meine Hände nicht voneinander lösen. Hertha bekam von mir einen Schubs, daß sie dasselbe machen sollte, und mit ziemlich ängstlicher Miene folgte sie mir. Wir standen vor den Stufen, die zur Bühne hinaufführten. Der mächtige Neger versuchte bei jedem, die geschlossenen Hände zu trennen, bei einigen gelang es ihm, die schickte er zurück. Als ich an die Reihe kam, schloß ich meine Hände so fest zusammen, daß er mich durchließ. Auch Hertha gelang dies zu meiner Verblüffung. Nun standen ungefähr zwanzig Personen auf der Bühne. Der Meister sagte uns, daß wir nun die Hände voneinander lösen könnten, was auch geschah. Ich hatte keine Ahnung, ob ihn die anderen Personen, ebenso wie wir, nur täuschten oder tatsächlich unter seinem Zwang handelten.
Als erstes legte er eine Streichholzschachtel auf den Boden, rief einen aus der Reihe und sagte: «Diese Schachtel wiegt zwei Zentner, Sie können sie nicht aufheben.»
Ich war gespannt, was nun geschehen würde. Tatsächlich bemühte sich ein junger Mann vergeblich, die Schachtel hochzuheben. Auch ein Mädchen konnte sie nicht von der Stelle bewegen. Als ich an die Reihe kam, blickte mich der Zauberkünstler, wie mir schien, etwas beunruhigt an. Ich überlegte mir, ob ich den Trick mitmachen solle. Um kein Spielverderber zu sein, tat ich so, als ob auch ich die Schachtel nicht vom Fleck rücken könnte. Er machte dann verschiedene andere komische Dinge mit uns. So sagte er zum Beispiel: «Wir haben jetzt vierzig Grad minus.»
Darauf begannen wir, uns die Arme zu schütteln, die Beine zu massieren und uns gegenseitig warm zu schlagen. Dann rief er: «Nun sind Sie in der Wüste unter dem Äquator, es ist unerträglich heiß, die Temperatur beträgt
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